Der Mensch will leben, aber auch lachen

Dimiter Gotscheff inszeniert an der Berliner Volksbühne "Der Selbstmörder" Was sagt uns Nikolai Erdmanns alte politische Satire heute?

Der junge Mann wirft einen großen Schatten, wenn er im Soldatenmantel, die spitze Mütze mit dem roten Stern auf dem Kopf, an die Rampe marschiert: Ich bin Proletarier. Dann preist er die Sowjetmacht in reinlich gereimter Begeisterung, - schließlich besitzt er ein Badezimmer und heißes Wasser. Doch schon rennen die, die auch und vor allem nur gut leben und ein Badezimmer haben wollen, wie ein aufgescheuchter Haufen über die Bühne. Skurrile Gestalten, Schlumpf- und Schrumpfmodelle zeitloser Spießer, in Schlafanzügen oder Unterhosen, die Augen aufgerissen, die Gesichter grell verzerrt. Bühnenbildnerin Katrin Brack lässt für sie rund dreißig Schaukeln herabsinken, und Beethovens "Freude, schöner Götterfunken" klingt dazu in militärmusikalischer Verfremdung. Die Schaukeln sind als Metapher mäßig überzeugend, - die Welt gerät ins Schwanken, es geht auf und ab für die Menschen.

Doch ihre bunten Schnüre besitzen ästhetischen Reiz, und sie werfen schöne Schatten auf eine leere Bühne, die jede historisierende Wohnküchenatmosphäre vermeidet. Vor allem aber können die Darsteller, zu denen rund dreißig Jugendliche der volksbühneneigenen Gruppe P 14 gehören, immer wieder szenisch bewegte Auf- und Abschwünge demonstrieren.

Dann aber geht es los mit Erdmann. Mit seiner ersten, in ihrer sozialen und situativen Komik genialen Szene. Der arbeitslose Semjon Podsekalnikow verlangt nachts nach Wurst, gerät mit seiner Frau in Streit und dann in Verdacht, aus Scham und Verzweiflung Selbstmord begehen zu wollen. Wovor ihn zwar seine Familie bewahren will, wozu ihn aber Vertreter aller Schichten und Interessen aus ureigenen Interessen zu drängen suchen. Wie ein Vertreter der alten Intelligenz: "Früher hatten die Leute eine Idee und wollten dafür sterben. Heute haben die Menschen, die sterben wollen, keine Idee, und die Menschen, die eine Idee haben, wollen nicht sterben. Dagegen muss man kämpfen. Mehr als je zuvor brauchen wir ideologische Leichen."

Es geht also durchaus um Ideologie, - hier bestimmt das Sein das Bewusstsein. Nikolai Erdmann schrieb keine anti-ideologische Farce, sondern eine leichtfüßig bitterböse Satire auf gesellschaftliche Wirkungen der Neuen Ökonomischen Politik in der Sowjetunion. Darüber, wer da alles hochkommt, was da alles aufbricht, was noch und wieder vorhanden ist. Was wir von Semjon und der historischen Satire Nikolai Erdmanns heute zu halten haben, hat uns Regisseur Dimiter Gotscheff mit seinen Vorspielen zu zeigen gesucht: der Mensch will leben, gut leben. Er will seinen Platz haben, und er will etwas bedeuten. Nun kämpft Gotscheff weder die aufklärerischen alten Schlachten, gegen eine realsozialistische Politik, noch infiziert er den alten Text mit aktuellen Krankheiten wie Hartz IV. Er versucht, das Spießerdrama in die existentielle Grundsätzlichkeit zu überdrehen. Leider verliert er dabei beides ans Theater, die Historie wie die Aktualität. Erdmanns aufmarschierende gesellschaftliche Interessenvertreter haben nur mehr dramaturgische Bedeutung oder werden von Gotscheff, der den Text bearbeitet hat, ideologisch unsinnig befrachtet. So freut sich der Schießbudenbesitzer bei Gotscheff darauf, Gulag-Tote als Zielscheiben geliefert zu bekommen.

Tschechows von Gotscheff vor über einem Jahr an der Volksbühne inszeniertem Iwanov war das menschlich Grundsätzliche eingeschrieben. Erdmanns Satire funktioniert dagegen nur mit sozialer Konkretheit. Stalins Zensoren hatten schnell entdeckt, dass Erdmann nicht nur Komik wie Gefährlichkeit der neuen, alten Menschen nach der NEP zeigt, sondern auch vor der Bedrohung der Individualität unter den neuen Bedingungen warnt. Jegor, der Soldat aus dem Vorspiel, preist das Bestehende und schwärmt von den Massen: Im Sozialismus gibt es keine Menschen mehr! Dann erklärt er, wie eine Frau wirkt, wenn man sie vom marxistischen Standpunkt aus anschaut: "... die ganze Schönheit ist wie weggeblasen, und die Frau wird so hässlich, dass ich´s nicht beschreiben kann." Gerade solche Vorgänge beschreibt das Stück mit Feydeau´scher Situationskomik und knallendem Wortwitz.

Gleich drei führende Moskauer Theater, darunter die von Meyerhold und Stanislawski, bemühten sich 1932 um die Uraufführung von Nikolai Erdmanns 1928 veröffentlichter (nach Das Mandat zweiter) Komödie. Doch Meyerholds Uraufführungs-Inszenierung wurde nach der Generalprobe verboten, Erdmann 1933 wegen "konterrevolutionärer Umtriebe" nach Sibirien deportiert. Der Selbstmörder fand erst 1982 seinen Weg auf eine sowjetische Bühne (für fünf Vorstellungen im Moskauer Theater der Satire), lange nach seiner Uraufführung 1969 in Göteborg und seiner deutschsprachigen Erstaufführung 1970 in Zürich. 1970 kam es auch an der Berliner Schaubühne heraus, später folgte das Schillertheater, und 1989 wurde es vom Schweriner Theater beim Theatertreffen sowie von Manfred Wekwerth am Berliner Ensemble präsentiert. Auch wenn diesen beiden letzten Inszenierungen sich, mit unterschiedlicher Energie, mit erlebten und erlittenen gesellschaftlichen Haltungen auseinander setzten, wurde das Stück doch vor allem als Lachmaschine genommen. (Der Regisseur Stanislawski ließ eine Lesung unterbrechen, weil er aus dem Lachen nicht mehr herauskam.)

Auch Dimiter Gotscheff sucht den überbordenden Witz dieser grotesken Typenkomödie auszustellen. Doch statt die Szenen so knapp und genau zu spielen, wie sie der Autor schrieb, dürfen die Schauspieler ihre Rollen im Rampen- und Nummerntheater mächtig ausmalen. Die Inszenierung findet kein Tempo, keinen Rhythmus, keinen Witz, sondern stellt immer nur bedeutsame Komik aus. So quält sich der Abend über weit mehr als drei bleierne Stunden dahin. Trotz brillanter Schauspieler, wie Herbert Fritsch als Schwiegermutter im Nachthemd oder Wolfram Koch als Schießbudenpächter in Unterhose. Einerseits bleibt die Zeitsatire zu unkonkret, andererseits wird sie wieder mit zu vielen (auch ästhetischen) Anspielungen beschwert.

Wenn Samuel Finzis Semjon mit Kathrin Angerer im Ehestreit das gesamte Geschirr zerdeppert, dann wird wie so oft in dieser Inszenierung sowohl die direkte Situationskomik wie die tiefere Bedeutung einer kleinen Situation an dick aufgetragene Schauspielerei verschenkt. Natürlich ist Samuel Finzi grandios. Ein Struwwelpeter in kurzer Schlafanzughose und panischem Blick, der vom ersten Auftritt an wie unter Überdruck oder wie auf Superspeed scheint. Dieser kleine Mann mit großem Geltungsbedürfnis würde heute in eine Talkshow oder zu Deutschland sucht den Superstar gehen. Bei Erdmann versucht er erfolglos Tuba zu spielen, dann regrediert er und steigert sich in die totale Selbstüberschätzung. Man wird nach seinem Selbstmord, vor dem er schließlich doch zurückschreckt, überall seinen Namen rühmen: von Podsekalnikow-Straße über Podsekalnikow-Milchstraße bis zu Podsekalnikow-Menschheit! Wunderbar, wie Finzi sich eitel dreht und wendet, wie er auch mal gestisch-sprachlich hitleresk wirkt. Urkomisch, wenn er sich befreit, indem er die Hose auszieht und mit nacktem Hintern, die zusammengeknüllte Hose als Telefon benutzend, den Kreml anruft: "Ich habe Marx gelesen. Er hat mir nicht gefallen."

Doch letztlich ist das leer laufendes Virtuosentum, Nummern in einer Inszenierung, die das Publikum weniger inhaltlich als formal einbezieht. An der Volksbühne richtet Semjon seine Frage "Gibt es ein Leben nach dem Tod?" nicht an einen Taubstummen wie bei Erdmann, sondern ans stumme Publikum. Und die Jungdarsteller von P 14 beziehen uns ein, indem sie über die Parkettreihen nach draußen klettern. Doch dabei lassen sie auch eine politische Satire hinter sich, die in der Volksbühne in jeder Hinsicht alt aussieht.


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