Weil an allen Schwierigkeiten in einem Aufklärungsstück der Roten Grütze "die Gesellschaft" schuld sein sollte, tönte ein Schauspieler in Zeiten des studentenbewegt politischen und Zielgruppentheaters: "Wenn ich die treffe, dann hau´ ich ihr aber eine." Von solch ironischer Lockerheit waren die Theaterkünstler weit entfernt, die sich im Rahmen einer von der Heinrich-Böll-Stiftung und den Berliner Sophiensälen veranstalteten Diskussionsreihe zum Thema Klasse(n) Theater! Wie kommt das Soziale auf die Bühne? streiten sollten. Da kein Vertreter eines Theaters mit direkter oder äußerlicher Wirkungsabsicht (wie Volker Lösch) auf dem Podium saß, wurde weder gestritten noch diskutiert, sondern nur fintiert und vernebelt. Nichts von dem, was ihnen Moderator Dirk Pilz mit so klaren wie klugen Fragen zu Theorie und Praxis zu entlocken suchte, gaben die Theaterleute freiwillig preis. Es wurde ein zäher und durch die Verweigerungshaltung der "Gesprächs"partner dann doch unfreiwillig spannender Abend.
In Zeiten, in denen immer mehr Arbeitslose auf (statt vor) der Bühne auftauchen, in denen Laien sich auch im professionellen Theater ausdrücken dürfen, in denen Theater sogar das Leben der Menschen in deren Wohnbezirken vor Ort theatralisch untersuchen, heißt es, das Theater sei wieder politisch geworden. Als wäre es je unpolitisch gewesen, ob bei Shakespeare, Ibsen oder Paul Schönthan. Ob Widerspiegelung neuer Verhältnisse in alten Stücken, ob kleiner, individueller Ausschnitt oder großer, gesellschaftlicher Überblick, ob Familienpsychologie oder abstrakte Gesellschaftsanalyse: "Es gibt kein Entkommen vor dem Sozialen." Als Andres Veiel, mit Gesine Schmidt Schöpfer von Der Kick, einem Dokumentarstück neuer Form (über den Mord von Jugendlichen an einem Jugendlichen), dies hervorhob, betonte er zugleich den für ihn wesentlichen Unterschied zum politischen Theater der Vergangenheit: dieses habe sich einem Bildungsauftrag verpflichtet gefühlt, doch seins erfülle einen Forschungsauftrag.
Dabei meint Erforschen der Realität nicht, diese direkt abzubilden, sondern, sich mit ihr in den Dialog zu begeben. Bei der Autorin Kathrin Röggla ist das wörtlich zu nehmen: in ihren Stücken Wir schlafen nicht und Draußen tobt die Dunkelziffer wird das Denken und Sprechen von Unternehmensberatern und Schuldnern auf die Bühne gebracht. Indem sie die Strukturen des Denkens hinter Sprache und Ideologie aufscheinen lässt, will sie nicht Mitleid hervorrufen, sondern soziale Ohnmacht ausstellen. Auch hier geht es nicht um genaue Abbildung, sondern um einen Dialog für das und mit dem Publikum. Statt Schuldzuweisungen auszusprechen, will Röggla zeigen, was (falsches) Denken in uns anrichtet.
Andres Veiel verwarf jegliche direkte Bühnenrekonstruktion von Wirklichkeitsmaterial: es soll auseinander genommen, befragt, neu zusammengesetzt und nachträglich rekonstruiert werden. So dass der Theatermacher, der das gesellschaftliche und individuelle Umfeld der Täter zum Sprechen bringt, nicht über die Tat, sondern über die Verwerfungen im Leben anderer Menschen "tiefer in den Beton der Geschichte bohren" kann. Nicht eine Untat wird erklärt, sondern die Widersprüche einer Gesellschaft werden gefunden. Der utopische Moment solcher Theaterarbeit entsteht nach der Aufführung, im Nach- und Weiterdenken der Zuschauer.
Nur konsequent, dass in solchem Theaterverständnis das sogenannte Repräsentationstheater und der Identifikationsschauspieler, der auf die Bühne tritt und sagt, "ich bin Hamlet", und nach theaterüblicher Vereinbarung vom Publikum als solcher akzeptiert wird, keine Rolle mehr spielt.
Die Theatermacher einte auf dem Podium eine vehemente Absage an das politische Theater der siebziger Jahre. Jede Form von Zielgruppentheater oder eines Theaters mit klarem Ziel verwarfen sie, und zeigefingrige Erklärungen waren "äh bäh". Nicht um Theater als moralische Anstalt ging es, sondern um ein Theater als gesellschaftlicher Seismograph.
Und doch war, entgegen aller Absage an Didaktik und Wirkungsabsicht, bei allen gerade letztere zu bemerken. Wenn der Regisseur Daniel Wetzel von der Gruppe Rimini Protokoll, der mit "Experten des Alltags" genannten Laien ein "Theater der Selbstauskunft" macht, in dem die Laien sich mit ihrem Leben zu einem Thema in Beziehung setzen, dann ist der Fundus, aus dem geschürft und das Pfund, mit dem gewuchert wird, ein übergeordnetes Erkenntnisinteresse. Und die Dramatikerin Kathrin Röggla arbeitet zwar ohne affirmatives Verhältnis mit dokumentarischem Material, ist sich aber zugleich bewusst, dass ihre Haltung das Material und die Sicht darauf filtern. Als man sich einig war, dass das Soziale nicht als Anklage, sondern als Frage auf die Bühne und vor das Publikum zu kommen hat, schienen alle Fragen beantwortet. Aus dem Publikum kamen jedenfalls keine, und der mit seinen bohrenden Fragen als Ankläger missverstandene Moderator resignierte.
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