Nackte Vorgänge zwischen Menschen

Sprachraum ist gleich Spielraum Der Regisseur Jürgen Gosch auf dem Weg vom Endspiel zum Menschenspiel

Jürgen Goschs Erfolgsweg als Regisseur begann mit einem Missverständnis: als er 1978 an der Ostberliner Volksbühne Büchners Leonce und Lena inszenierte, sah das Publikum in vielen szenischen Zeichen nur Anspielungen auf seine realsozialistische gesellschaftliche Realität (wenn zum Beispiel der Hofstaat als eine hündische, blinde Schar alter Männer an Stöcken auftrat), während DDR-Theaterkritiker bemängelten, Büchners Lustspiel sei zu Becketts Endspiel geworden. Gezeigt wurden tatsächlich Enge, Langeweile und Ausweglosigkeit. Doch Nihilismus und auf kritische Wirkung spekulierende Anspielungen wurden einem Regisseur vorgeworfen, der schon damals seine Bühne vor allem als existentiellen und Kunstraum verstand und keinesfalls eine soziale Realität direkt abzubilden versuchte. "Der Ansatz zu Leonce und Lena war nicht die DDR, war nicht eine Verärgerung über die Umwelt, sondern es war auf der einen Seite das Stück als Material, als Sprache, als Literatur. Auf der anderen Seite mein Kopf und mein Körper, der Kopf und der Körper der Schauspieler, die Farbe und der Pinsel des Bühnenbildners", erklärte Jürgen Gosch 1981 nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik.

Begonnen hat der 1943 in Cottbus Geborene als Schauspieler. Über Parchim, Potsdam und Erfurt gelangte er wieder nach Berlin (an die Volksbühne) zurück, wo er an der Schauspielschule studiert hatte. Der Schauspieler, dessen "gestisch genaue Spielweise" bereits bei seinem ersten Engagement in Parchim 1964 hervorgehoben wurde, begann schon 1971 Regie zu führen. Die Kritik seiner Inszenierung einer Feydeau-Komödie 1974 in Erfurt benennt, was Gosch später weiterentwickeln wird: "Er zerlegt die ganze Geschichte von ihrer gesellschaftskritischen Aussage her in lauter kleine Verhaltensstudien, um mit dem menschlich-allzumenschlichen Verhalten Motivstrukturen aufzudecken." Dies, gewendet zum Vorwurf ungenauer historischer Fixierung, bringt ihm Ärger ein. In Brandenburg und Schwerin kommen zwei seiner Inszenierungen nicht über die Generalprobe hinaus.

Im Westen gelingt ihm schnell der Durchbruch. Mit Klassikern, die er, erst in Hannover, dann in Bremen, Köln und Hamburg, mit formbestimmter Strenge zu bildhaft intensiver Wirkung bringt. Sein Ödipus von Sophokles, 1985 mit Ulrich Wildgruber in Köln als Maskentheater mit Schauspielern auf Kothurnen inszeniert, ist kunstvoll ritualisiertes Theater mit den großflächig dominanten Farben Schwarz, Weiß und Rot. Schon hier betont Gosch nicht nur deutlich die Künstlichkeit des Spiels, sondern hebt zugleich auch den Schauspieler als arbeitende Persönlichkeit hervor. Indem er Molières Menschenfeind (wie der Ödipus eingeladen zum Theatertreffen) und Becketts Godot erbarmungslos nüchtern und hoffnungslos inszeniert, wird an seinen Arbeiten nun das "Endspielhafte" hervorgehoben.

Seine Einstandsinszenierung als künstlerischer Leiter der Berliner Schaubühne gerät ihm 1988/89 zum Debakel. Shakespeares Macbeth, von rauschebärtigen Männern in bodenlangen Kleidern gespielt, treibt Gosch bei seiner Suche nach kräftigen Bildern nicht nur in die geformte Künstlichkeit, sondern auch in die unfreiwillige Komik. Nach kurzer Zeit verlässt Gosch die Schaubühne und arbeitet vor allem am Deutschen Theater Berlin und am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Beachtet und geachtet, aber nicht mehr im Fokus der großen Theateröffentlichkeit. Jetzt aber ist Jürgen Gosch, auch wenn er nie weg war, wieder völlig da. Ganz selbstverständlich und mit großem Arbeitseifer. Mit Inszenierungen, die Furore machen und eine deutliche, sinnliche und eigene Handschrift zeigen.

Theater und Leben sind zwei verschiedene, wenn auch sich gegenseitig bedingende und bestimmende Welten für Jürgen Gosch. Auf seiner Bühne findet nichts statt, das einer platten Wiederspiegelung ähnelte. Dieser Regisseur stellt seine Schauspieler in leere Bühnenräume, die existentielle Räume sein sollen und ohne direkte gesellschaftliche Verweise auskommen. Nur Begrenzungsstreifen auf dem Boden und Seile in der Luft markieren in Yasmine Rezas Ein spanisches Stück (Hamburg) und in Edward Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf die Räume für ein furioses Schauspieler-Spiel, bei dem das Licht im Zuschauerraum meist an bleibt. Hier wird gezeigt, dass Theater "gemacht" wird. Dabei geht es vor allem um Sprache und klare Bildzeichen. Und um im doppelten Sinne "nackte" Vorgänge zwischen Menschen, die ohne einen präzisen sozialen Gestus auskommen müssen. Ob bei Tschechows Drei Schwestern in Hannover, Schimmelpfennigs Auf der Greifswalder Straße am Deutschen Theater oder Shakespeares Macbeth in Düsseldorf: immer steigen die Darsteller, ob mit oder ohne Kleidung, aus der ersten Parkettreihe auf die Bühne. Sieben Bürotische, sieben Plastestühle, sieben Schauspieler sowie etliche Wasserflaschen und Theaterblutkonserven, mehr braucht Gosch für seinen Macbeth nicht. Die Darsteller sollen in wechselnden Rollen sowohl die Kreatürlichkeit wie die Künstlichkeit der Vorgänge ausstellen. Also klettern sie auf die Tische, beschütten sich mit Wasser oder Blut, urinieren und koten exzessiv und artifiziell theatralisch, und entblößen sich mit ihren Kleidern auch ihrer letzten sozialen Bestimmtheit. Wenn hier drei nackte (Männer-) Hexen auf drei, ebenfalls von nackten Männern gespielten Pferden reiten, dann spaltet sich das Publikum in Begeisterung und Protest. Dieses fulminante Schauspielertheater enthält sich jeder historischen Konkretisierung und jeder vordergründigen politischen Aussage. Wie auch Tschechows Drei Schwestern, die Gosch in Hannover in einem kahlen, sich in die Tiefe verengenden Raum ohne Ausgang spielen lässt. Die Schauspieler kommen von ihren Stühlen im Hintergrund nach vorn und werden von einem am Bühnenrand hin und her fahrenden Scheinwerfer ins Licht gesetzt. Am Schluss schreiten drei Generationen diesen Lebensraum gleichzeitig ab. Wieder wird ein körperbetontes, die körperliche Existenz der Figuren betonendes Spiel gegeben. Alles passiert beiläufig, ohne deutliche Fallhöhe zwischen Wünschen und scheiternden Hoffnungen der sich dem Publikum deutlich als Theaterfiguren vorstellenden Leute zu zeigen. Indem der Regisseur die Personen ihrer sozialen Haltungen und Sehnsüchte beraubt, nimmt er dem Stück aber viel von seinem Spannungspotential. Wieder, wie auch in Auf der Greifswalder Straße, sind es Menschen aus dem großstädtischen Milieu, die Jürgen Gosch mit typischen Verhaltensweisen in erkennbarer heutiger Szene-Kleidung vorführt. So entsteht, auch durch ein zitathaftes gestisches Material, eine Genauigkeit, die nicht sozial fundiert beschreibt, aber doch in Bezug auf menschliche Haltungen von Präzision und Wiedererkennbarkeit bestimmt ist. Man könnte es als das theatrale Gosch-Klima bezeichnen.


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