Reflexe statt Reflexionen

Berliner Theatertreffen 2006 zum Zweiten Unterm Erwartungsdruck der (Vor)Urteile - Erfahrungsbericht eines Jurors

Pulkweise strömen (meist ältere) Zuschauer aus dem Düsseldorfer Theater, während die zahlreichen, medial gestählten Schulklassen Jürgen Goschs Macbeth-Inszenierung mit gelangweiltem Understatement folgen. Am Ende spendet das Publikum begeisterten, die Schauspieler und sich selbst anfeuernden Applaus. Und steht im Foyer gruppenweise zusammen, diskutiert, schimpft oder jubelt über ein Theater, das seine eigene Form gefunden und sein Publikum erreicht hat. Sieben oft nackte, sich unentwegt aus Wasser- und Theaterblut-Flaschen überschüttende Schauspieler haben sich einen existentiellen Spielraum für Shakespeares Auseinandersetzung mit Gewalt, Sex und Sehnsucht geschaffen, und das Publikum reibt sich an diesem Spielraum. Im Düsseldorfer Schauspielhaus.

Im Haus der Berliner Festspiele geht der Düsseldorfer Macbeth ohne Protest und Reibung über die Bühne. Der Applaus ist verhalten respektvoll. Das Publikum des Theatertreffens hat schon viel gesehen. So verliert dieser besondere Macbeth vor der Haustür von Frank Castorf seine Besonderheit und seine starke Wirkung. Dabei hat sich die Inszenierung seit der Vorstellung, die ich in Düsseldorf sah, zu enormer Dichte und Kraft entwickelt.

Noch ein Tschechow: Karin Henkel hat am Stuttgarter Schauspiel den Platonow mit vielen äußeren Effekten als Stück über Menschen inszeniert, die hoffnungslos anrennen gegen die Leere und den Stillstand ihres Lebens. In Stuttgart: Ein Theaterfest. In Berlin: Publikumsjubel und professionelles Genörgel bei den regionalen Medien und im Internationalen Forum des Theatertreffens. Dort empfinden junge Theaterleute die Opulenz der eingesetzten Mittel als effekthascherischen Krawall. Ohne zu merken, wie die Sinnlichkeit der Mittel nicht nur das Unterhaltungsbedürfnis der Zuschauer bedient, sondern auch die existentiellen Suchbewegungen der Figuren ausmalt. Was in Stuttgart als Qualität der Inszenierung erlebt wird, verliert diese in Berlin unter dem Ansturm des Vorurteils, Tschechows Figurenausnüchterung müsse durch eine ausgenüchterte Ästhetik vermittelt werden. Vermittlungsprobleme, Festivalvorstellungen ...

Verkneifen wir uns die übliche folkloristische Schilderung von zugigen Bahnsteigen und tristen Hotels und reden vom Wesentlichen: Wenn man als Juror durch die deutschsprachigen Theaterlande fährt, denkt man nicht daran, wie eine kleine oder große Stadttheater-Inszenierung in Berlin ihre Wirkung entfalten kann. Das Totschlags-Argument "das wird in Berlin nicht bestehen" darf keines sein. Selbst wenn man weiß, dass gutes Stadttheater erst einmal für die jeweilige Stadt gemacht wird. Denn das Kriterium für die Nominierung zum Theatertreffen heißt "bemerkenswert". Also nicht: festivalkompatibel, spektakulär, innovativ, einen angeblich aktuellen Trend oder ein Zeitgefühl spiegelnd. Die scheinbare Unkonkretheit des Auswahlkriteriums bietet die Chance, ein buntes Spektrum von theatralen Entwürfen einzuladen. (Was sich durch die unterschiedlichen Kriterien und Vor-Lieben von sieben Juroren ohnehin ergibt). Natürlich müssen sich bemerkenswerte Stadttheater-Inszenierungen auch außerhalb ihrer Stadt durch die Kraft ihres ästhetischen und thematischen Zugriffs behaupten. Aber auf Berliner Befindlichkeiten darf die Auswahl keine Rücksicht nehmen, auch wenn ihre Rezeption stark von diesen bestimmt ist.

Wie beim Neuen Theater aus Halle. Die erstmals eingeladene Bühne hatte bei der Presse, weniger beim Publikum, mit einem herablassenden Kleinstadt- und Ost-Bonus zu kämpfen. Der verstellte vor allem den professionellen Betrachtern den Blick auf das, was wirklich auf der Bühne stattfand. Auf einer Bühne, die in Berlin aus logistischen Gründen völlig anders aussehen musste als in Halle. Anstelle einer weiten und tiefen Spielfläche, auf der sich die in Form einer musikalischen Fuge komponierte Geschichte zwischen Zeiten, Räumen und Figuren multiperspektivisch simultan ereignet, gab es eine dicht an die Zuschauer gebaute Spielfläche auf der Hinterbühne des Hebbeltheaters. Damit veränderte sich die Inszenierung und behielt dennoch ihre offene, unspektakuläre Form. Eine skurrile Erfahrung war, wie in diesem Fall eine leise Inszenierung mit selbstreflexivem Erzählgestus und nur scheinbar einfacher Form, deren international erfahrener Regisseur Paul Binnerts (als Dozent für Schauspiel und Regie in Princeton auch theatertheoretisch ungemein gebildet) in Berlin nicht bekannt war, gegen die Vorurteile einer überforderten Berliner Presse prallte.

Das Theatertreffen ist kein thematisches Festival, das ein Thema oder einen Trend belegen will oder behaupten kann. Genau das aber verlangen die Medien und sein Publikum von ihm mit verzweifelter Hartnäckigkeit. Trend, Trend, Trend: Theater des Stillstands, Tschechow-Trend, neues politisches Theater, neues Schauspielertheater. All das gab es, ohne Trends zu ergeben. Doch die Rezeption des Theatertreffens durch das Berliner Publikum wird geprägt von ungeduldiger Erwartungshaltung und klaren Vorurteilen. Man erwartet großes Schauspielertheater, politisches Theater, heftigen Streit, Theater aus der Provinz und aus der freien Szene. All das gab es, während zum Beispiel das Chorische oder das Video- und das Poptheater diesmal fehlten. Nicht, weil dessen Zeit vorbei ist, sondern weil davon keine "bemerkenswerte" Inszenierung zu finden war. So habe ich bei meinen 140 Theaterreisen als Juror gelernt: Das Theatertreffen kann nicht die deutschsprachige Theaterlandschaft abbilden, sondern auf diese nur mehr oder minder erhellende Blitzlichter werfen.


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