Vom Sozialismus reden, heisst im Kapitalismus leben Jurij Brezans "Krabat" und Jürgen Eicks "Die neuesten Leiden des jungen W." in Senftenberg uraufgeführt
Lange haben sich ostdeutsche Theater vor allem an Rückblicken abgearbeitet und im Spannungsfeld von unbegriffenem Alten und unbekanntem Neuen auf die Suche begeben. Für eine Generation von Theaterbesuchern, die in der DDR groß geworden ist, gab es zwischen Magdeburger Osterkundung und Cottbusser Zonenrandermutigung vieles wieder oder neu zu entdecken. Neben Er- oder Verklärungen wurden aber vor allem Fragen gefunden: Wie waren wir? Wie wurden wir, wie wir sein/nicht sein wollten? Warum kam alles so, wie wir es uns nicht dachten?
Mittlerweile rücken die Probleme in der neuen Gesellschaft stärker in das Interesse von Theaterleuten, die zwar noch immer für ihr im doppelten Wortsinn altes Publikum spielen, die sich aber auch den Erfahrungen und Forderungen ein
ngen und Forderungen einer nicht mehr in der DDR geborenen, volljährig gewordenen Generation gegenüber sehen. Dabei sind die neuen Fragen deutlich die alten: Wie finde ich mich und mein Glück? Will ich so leben, wie es mir die Gesellschaft vorschreibt? Wohin geht es mit mir und der Gesellschaft? Was kann ich tun?Neben alter und moderner Klassik, die einen sinnlichen Resonanzboden für diese Fragen bieten, erlebt man derzeit vermehrt eine Auseinandersetzung mit und ein Weiterschreiben von Texten, die zu Lebzeiten der DDR die Welt zu erklären und den realen Sozialismus zu befragen suchten. So wie an der Neuen Bühne Senftenberg, an der Programm ist, die Zuschauer bei ihren geschichtlichen, regionalen und individuellen Erfahrungen abzuholen. Weshalb man sich die Stücke auch mal selbst schreibt. So wie Krabat und Die Verwandlung der Welt, mit dem Dramaturgin Gisela Kahl und Regisseurin Esther Undisz eine Bühnenversion von Jurij Brezans erstem seiner beiden Romane um die mythische sorbische Sagengestalt Krabat hergestellt haben.Der im vergangenen März verstorbene Brezan war ein Fabulierer und Philosoph, dessen Roman von 1976 auf mehreren Gedanken- und Zeitebenen spielt und auf 400 Seiten eine Überfülle von Geschichten und Gedanken ausbreitet. Der Dichter stellte kurz vor seinem Tod noch eine Szenenfolge nach dem Roman für das Theater her und schrieb in einem Epilog, nachdenkend über den "Blitz von Hiroshima": "Die Zeit war ein taumelnder Zirkusnarr." Denn bei Brezan geht es um grundsätzliche Fragen, mit Skepsis gestellt aus dem Geist der Zeit: "Wissen muss Macht werden." Brezan arbeitet sich an einer Janusköpfigkeit allen Fortschrittes ab, der zugleich Verbesserung wie Zerstörung bringe. Sein Krabat, der das Glück sucht und gegen einen bösen Gegenspieler zu kämpfen hat, kann beides sein: sorbischer Faust oder Mephisto.Die Senftenberger Inszenierung stellt Krabat nicht etwa in eine leere Kohlegrube, sondern in die Kunstwelt einer weißen, leeren Bühne. Hier wird der regionale Erfahrungsschatz sofort ins Allgemeine, Grundsätzliche überführt. Ein Chor der (sieben) Spieler verkörpert keine Figuren, sondern erzählt von ihnen und stellt sie im epischen Spiel aus. Die Aufführung springt durch Zeiten und Situationen. Aus dem 30-jährigen Krieg geht es in die siebziger Jahre, in der der Biologe Serbin die Formel des Lebens gefunden hat und glaubt, die Menschen könnten "Gen für Gen" neu eingerichtet und aus Vernunft moralisch werden. Während sein Gegenspieler ihnen ihr Konfliktbewusstsein nehmen und sie zu willenlos glücklichen Robotern machen will. Krabat verwandelt sich mittels seiner Formel auch in Serbin, und der Roman wechselt mit seiner doppelten Hauptfigur vom Märchenton zum intellektuellen Diskurs, ist einfaches Volksbuch wie kompliziertes Konstrukt eines Weltdurchdenkungsversuches, ist Geschichtsstück wie Liebesgeschichte. Das Geschehen springt von einem sein Werk an die Mitarbeiter verschenkenden Kapitalisten zur Schilderung der gewaltsamen Agitation für die Kollektivierung auf dem Land. Mit der Genmanipulation wird die alte Frage nach der Verantwortung des Wissenschaftlers und die danach, was von den Träumen der Vergangenheit im Heute verwirklicht oder aufgehoben sein könnte, einmal mehr gestellt. Regisseurin Esther Undisz sucht die Überfülle der Figuren, Handlungsstränge und Probleme in einen ruhigen Erzählfluss zu bannen. Das wirkt so souverän wie sympathisch, so anstrengend wie anregend, aber es ist zuweilen auch monoton und nahe an Darstellungsklischees. Insgesamt wird mehr aufsagend erzählt als versinnlichend gespielt, und nicht immer behält der Zuschauer im Wechsel der Zeiten und Figuren den Überblick. Dennoch: insgesamt ist dies ein schönes Beispiel für ein aus politischem Impuls geborenes poetisches Gegenwartstheater.Viele Theater der Republik bringen derzeit Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther auf ihre Bühnen, denn in seiner Dreiecksgeschichte lassen sich auch unterschiedliche gesellschaftliche Verhaltensweisen spiegeln. Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. machten deshalb 1972 in der DDR Furore. Jürgen Eick, der in Senftenberg schon Wedekinds Frühlingserwachen in unsere Zeit geholt hat, gelingt das jetzt auch wunderbar mit seiner Goethe/Plenzdorf-Aktualisierung: in Feuerherz ist der achtzehnjährige W. Vertreter der ersten ostdeutschen Generation, die den realen Sozialismus nicht mehr erlebt hat.Das Ende ist der Anfang: der tote W. erzählt von seinem Leben in der Lausitzer Grubenlandschaft. Wenn eine über der Hinterbühne postierte Band, die mit ihrem gitarren-punkigen New Metal dem Abend Drive gibt, das traurige Liebeslied vom "Herz eines Menschen" spielt, setzt W. bei der Bandprobe seine Lebenssehnsucht dagegen: für ihn klingt das nach "Eierkarton." Auch beim Vorspiel an der Musikhochschule trifft er auf eine andere Welt: W. denkt, fühlt, spielt nicht so, wie man von ihm erwartet. Das ist sein Grundproblem: zwar weiß er nicht genau, was er will, - doch was er nicht will, das weiß er. "Ich will nicht Geld verdienen, sondern leben." Wo bei Goethe und Plenzdorf ein Individuum gegen die Sinnvorgaben einer als einengend verstandenen gesellschaftlichen Ordnung anrannte, da sucht Held W. bei Jürgen Eick erst einmal nach den Ansprüchen und der Sinnhaftigkeit einer Gesellschaft, deren "Plan" er nicht erkennt.Regisseur Steffen Pietschs Inszenierung besitzt Kraft, Tempo und realistische Genauigkeit. Durch Schauspieler, die deutlich von heute sind. Wenn W.s Mutter die Kleidung ihres toten Sohnes sortiert, und der Vater, ein arbeitsloser Baggerfahrer, endlich ausziehen will, dann geben die Darsteller zugleich ein Bild für individuelle wie für gesellschaftliche Hoffnungslosigkeit. Michulsky, ehemalige Kollegin des Vaters, sitzt als Dealerin vor dem Haus auf einer Bank und versorgt W. mit dem Stoff, aus dem die leeren Träume sind. Wo Plenzdorfs junger W. Kunstmaler werden wollte, von seiner Malerbrigade in eine Berliner Datsche abhaute und beim Basteln für eine nützliche Malerspritze umkam, da will Eicks junger W. Musiker werden, wohnt in der in einer Grube versteckten ehemaligen Baubude seines Vaters und sprengt sich mit von Michulsky beiseite geschafftem Sprengstoff in die Luft. Im Bauwagen findet W. nicht nur ein Buch seines Vaters mit der sozialistischen Verfassung, sondern auch ein Tonband, das Plenzdorfs junger W. besprochen hat. Und da er in der Schule ein Referat über den jungen W. bei Goethe und Plenzdorf geschrieben hat, bietet Eicks Version manch intelligente Anspielungen auf vorhergehenden Zeiten.Regisseur Steffen Pietsch spitzt Eicks Text mit bühnenwirksamer Überdeutlichkeit satirisch zu. Im Arbeitsamt hat es W. mit einem Clown zu tun und bei einer Bewerbung mit einem Supermarktleiter, der im Hasenkostüm auf Rollschuhen hereinfegt. Lottes Verlobter ist als Wachschützer, der den unter Drogen stehenden W. bei der Verwüstung des Supermarktes erwischt, ein menschlicher Roboter. Der Schauspieler Ulrich Blöcher gibt seinem jungen W., was ein "Feuerherz" verlangt. Der Darsteller, der auch selbst singt und Gitarre spielt, besitzt große Bühnenpräsenz und ist Identifikationsfigur. So kann Feuerherz - Die neuesten Leiden des jungen W. zwar keine gültigen Antworten verkünden, aber doch als junges Zeit-Theater für alle Generationen die neue Zeit befragen.
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