Die USA sind fort, der IS kehrt zurück

Irak/Syrien Der „Islamische Staat“ schien besiegt. Doch jüngste Operationen zeigen, dass er aktiv ist und sich erneut ausbreitet
Ausgabe 34/2020
Kämpfer der Demokratischen Kräfte Syriens posieren vor einer amerikanischen Flagge bei einer Veranstaltung anlässlich des Sieges über den IS im März 2019
Kämpfer der Demokratischen Kräfte Syriens posieren vor einer amerikanischen Flagge bei einer Veranstaltung anlässlich des Sieges über den IS im März 2019

Foto: Chris McGrath/Getty Images

Kann der „Islamische Staat“ (IS) in Nordsyrien erneut Fuß fassen? Es gibt vereinzelt Angriffe auf Militärobjekte. Sie führen zu der Annahme, die Organisation könnte nach dem endgültigen Zusammenbruch ihres syrischen Kalifats im März 2019 und neun Monate nach der Tötung ihres Anführers, Abu Bakr al Baghdadi, als Kampfeinheit zurückkehren. Die IS-Aktivitäten sind besonders beunruhigend, weil sich die Bedingungen, die sie ermöglichen, in den kommenden Monaten nicht groß verändern dürften. Auch wenn der IS seine Operationen – ebenso im Irak – seit dem Verlust seiner Territorien nie eingestellt hat, deuten jüngste Berichte daraufhin, dass der „Daesch“ seit Jahresbeginn sowohl in ostsyrischen Dörfern als auch in Vororten Bagdads in Erscheinung tritt. Dabei legt die Art und Weise, wie einige Angriffe unternommen werden, nahe, dass die IS-Rudimente Nachrichtenmaterial über Truppenbewegungen und potenzielle Anschlagsziele haben müssen. Anzeichen dafür, dass IS-Kombattanten lokal erneut Wurzeln schlagen, sich Raum erkämpfen und über militärische Infrastruktur verfügen?

Keine Rache für Bagdadis Tod

Gäbe es eine solche Erholung, würde die auf eine Zeit der akuten Schwäche folgen, die nach dem Verlust der IS-Zentren Mossul und Raqqa 2017 eingetreten ist. Sie erreichte ihren Höhepunkt mit dem Tod Bagdadis im Oktober 2019. Der „Daesch“ sah sich damals offenkundig außerstande, Rache für die Ermordung seines selbst ernannten Kalifen zu nehmen oder die Gelegenheiten zu nutzen, die sich aus der Ankündigung der US-Regierung ergaben, die Truppen aus Nordsyrien abzuziehen. Warnungen, vor allem dieses Ausscheren der USA würde die Rückkehr des IS befördern, hatten sich zunächst nicht bewahrheitet, was nicht so blieb. Die zwischen dem Nachlassen des Drucks und der Regeneration der Terrororganisation verstrichene Zeit erscheint wichtig. Sie weist darauf hin, wie der IS wieder zurückgedrängt werden könnte, sollte er sich tatsächlich dauerhaft regenerieren.

Im Irak hatten Ende vergangenen Jahres Massenproteste in der Hauptstadt und im Süden die Stimmung angeheizt. Sie zwangen die Regierung von Adil Abd al Mahdi zum Rücktritt und führten zu einer politischen Stagnation, die erst im Mai überwunden werden konnte, als sich die Parteien mit Mustafa al Kadhimi auf einen neuen Premierminister einigen konnten. Die Proteste, bei denen manchmal anti-iranische Töne zu hören waren, sorgten für wachsende Spannungen zwischen den im Irak stationierten US-Amerikanern und schiitischen Milizen. Das Ganze mündete schließlich in das Attentat auf den iranischen Generals Qassem Suleimani und den prominenten schiitischen Milizenführers Abu Mahdi al Muhandis am 3. Januar.

Zum ersten beachtenswerten Angriff des IS kam es Mitte April in Syrien, als Kombattanten nahe der Wüstenstadt Palmyra Regierungstruppen stundenlang in Feuergefechte verwickeln konnten. Im Mai dann holten irakische IS-Filialen zu Vorstößen in Diyala und Salah ad-Din aus. Es wurde versucht, die Antiterror-Zentrale in Kirkuk zu stürmen. Dies misslang zwar, doch kam es damit zu einer der raffiniertesten IS-Aktionen seit Jahren. Der „Daesch“ hat von einem Sicherheitsvakuum und dem nachlassenden militärischen Druck in beiden Ländern profitiert. Sollte er wieder handlungsfähig werden, dürfte es schwierig sein, ihn ohne multilaterales Engagement erneut zu schwächen. Den IS in den Untergrund zu zwingen, vor allem seine Netzwerke zu zerschlagen, würde jene Strategie der Geduld erfordern, wie sie nach seinem Vormarsch vom Sommer 2014 unausweichlich war. Ob es dazu kommt, erscheint fraglich, seit die Spannungen zwischen den im Irak stationierten US-Einheiten und den irakischen Streitkräften spürbar zugenommen haben. Eine Allianz wie bei der Schlacht um Mossul 2016/17 ist derzeit kaum denkbar. Überdies haben sich US-Militärs bereits von mehreren taktischen Basen im West- und Zentralirak zurückgezogen – wo sich der IS wieder zu regen beginnt. Dieses Muster – die einen gehen, die anderen kommen – macht die gegenwärtige Phase besonders gefährlich. Je länger sie andauert, umso mehr könnten die Dschihadisten zu der Bedrohung werden, die sie schon einmal waren.

Hassan Hassan ist Direktor des Programms für nichtstaatliche Akteure und Geopolitik am Center for Global Policy in den USA

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Übersetzung: Holger Hutt

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