Auf den ersten Blick hat es natürlich viel für sich, die Regierungen von George W. Bush und Barack Obama für die Lage im Irak verantwortlich zu machen. Konnte sich die Gewalt nicht erst ausbreiten, als US-Streitkräfte in Bagdad einmarschierten? Haben die USA die internen Konflikte nicht geschürt und sich anschließend abgesetzt? Solche Klagen gegen die US-Politik finden in Deutschland viel Zustimmung. Doch sind Handlungen oder Unterlassungen der Amerikaner – so zerstörerisch sie auch gewesen sind – nicht ausreichend, um den Aufstieg des Islamischen Staats (IS) zu erklären. Es hieße, die Gestaltungsmacht Amerikas zu überschätzen, wollte man die soziopolitischen Grundprobleme, die im Irak dem Dschihad den Boden bereitet haben, allein auf deren Einmischung zurückführen: Die USA tragen nicht die Hauptschuld daran, wenn die irakische Gesellschaft heute derart zerrissen ist, dass Sunniten ihre schiitischen Brüder in Massen als Häretiker umbringen. Lange vor der US-Intervention wurden in Bagdad und nicht in Washington die Weichen für den Konflikt zwischen sunnitischen und schiitischen Irakern gestellt, aus dem der Terror des IS seine Kraft zieht.
Ein Auslöser dieser Konfrontation war die paranoide Reaktion der irakischen Regierung auf die Islamische Revolution im Iran Anfang 1979: Seitdem das schiitische Nachbarland versuchte, seine politischen Neuordnungsideen auch in die arabische Welt zu exportieren, galten Schiiten im Irak pauschal als potenzielle Landesverräter. Nach einem gescheiterten achtjährigen Krieg gegen den Iran und einem späteren Volksaufstand im Irak, bei dem einigeRebellen auch iranische Symbole verwendeten, stellte das Regime unter Saddam Hussein ganz offen in Frage, ob Schiiten überhaupt „echte“ Iraker seien. Zu Hunderttausenden ließ der Diktator in den 80er Jahren schiitische Bürger ausweisen oder umbringen. Sie erlitten ein ähnliches Schicksal, wie es kurdischen Irakern bereits zuvor widerfahren war. Seinen eigenen Sicherheitsapparat rekrutierte Saddam nach 2000 nur noch aus der sunnitischen Minderheit, die zusätzlich möglichst durch persönliche, sprich: Familien- und Stammesbande an ihn gebunden war.
Feindprioritäten
Dieser Spaltungsprozess revidierte die positive Entwicklung, wie sie das Land in den 60er Jahren genommen hatte, als die verschiedenen religiösen, ethnischen und tribalen Identitäten dank ökonomischer Prosperität und eines säkularen Nationalismus fast verschwunden waren. Doch machte Saddam diese Unterschiede mit seinem sunnitisch-arabischen Nationalismus und dem Krieg gegen den Iran wieder zum Thema. Gegenüber dem Kampf gegen den imperialen Westen hatte dieser ideologische Konflikt Vorrang: Verblüfften amerikanischen Zuhörern erklärte der verhaftete Ex-Diktator 2003, dass die mögliche Illoyalität der Schiiten für sein Land immer bedrohlicher gewesen sei als die Feindschaft mit den USA.
Die gleiche Feindpriorität verkündete ab 2006 der irakische Al-Qaida-Führer Musa al Sarkawi: Schiiten zu bekämpfen, das sei wichtiger, als Amerikaner zu töten. Osama bin Laden hat diese Ausrichtung nie abgesegnet; von ihm hinterlassene Papiere künden im Gegenteil von Versuchen, den Dschihad erneut gegen den Westen zu kehren. Wie wenig Erfolg er damit hatte und wie sehr die Islamisten im Irak auch jetzt von Feindperzeptionen angetrieben werden, die aus der Ära von Saddam Hussein stammen, hat das Verhalten der Krieger von „Kalif“ al-Baghdadi klar gezeigt: Offenkundig haben Massenmorde des IS an eigenen Landsleuten und Glaubensbrüdern ihre Ursache in den lokalen Konfliktlinien und nicht im Hass gegen den Westen.
Die IS-Dschihadisten al-Baghdadis stehen in einer Konflikttradition, die ohne Zutun der Amerikaner und lange vor ihrem Angriff auf den Irak entstanden ist. Es ist eben nicht primär das Narrativ vom antiimperialen Kampf gegen den Westen, das Gotteskrieger des IS zu ihren Gewalttaten motiviert – so viel Aufhebens auch um den Bruch mit den einst von Europa erzwungenen Kolonialgrenzen gemacht wird. Vielmehr steht die irakische Führung des IS im Kontext der arabischen Einheitsidee und der Konfrontation mit dem schiitischen Iran – beides ideologische Motive, von denen die irakische Gesellschaft seit den 80er Jahren geprägt wird. Nicht umsonst kann sich der IS auf dieser Basis mit Kräften wie der Naqshbandi-Armee verbünden, die sich aus ehemaligen Anhängern Saddam Husseins rekrutiert.
Zweifellos haben die USA den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten von Anfang an verschlimmert und gehören zur Eskalationsgeschichte. Die Reagan-Administration hat Saddam Hussein im Krieg gegen den Iran unterstützt. George Bush senior tolerierte Saddams Massaker an schiitischen und kurdischen Rebellen im März 1991. Doch hatten Entscheidungen der US-Präsidenten letztlich kaum Einfluss auf die negative soziopolitische Lage im Irak, die vom Regime so gewollt und von weiten Teilen der Gesellschaft getragen wurde.
Als das US-Außenministerium im Sommer 2002 damit begann, Exiliraker im Future of Iraq Project zusammenzubringen und eine Exilregierung zu gründen, wurden umgehend Partikularinteressen artikuliert: das Verlangen der Schiiten, ihre Diskriminierung abzuwerfen und als Bevölkerungsmehrheit selbst die Kontrolle über den Staat zu haben; die Forderung der Kurden, endlich die zentralstaatliche Unterdrückung ihrer Ethnie zu beenden; das Dilemma der Sunniten, nicht pauschal als Kreaturen des Regimes abqualifiziert zu werden und als gesellschaftliche Elite anerkannt zu bleiben.
Die Folge davon war, dass die Amerikaner nach ihrem Irak-Feldzug zu Getriebenen lokaler Alliierter wurden: Im Mai 2003 gab die US-Besatzungsmacht dem Drängen der Schiiten und Kurden nach dem Verbot von Saddams Baath-Partei und der Auflösung seiner Armee nach. Zugleich billigte sie das von den Exilirakern entworfene Konzept, eine Volksversammlung einzuberufen, die so mit Schiiten, Sunniten und Kurden besetzt war, wie das deren Anteil an der Bevölkerung entsprach. Im Sommer 2004 musste Washington schließlich unter dem Druck der Iraker vorzeitig Wahlen akzeptieren, in denen ethnisch-religiöse Identitätsparteien die größten Chancen hatten. Mit deren Wahlsieg wurde die gesellschaftliche Spaltung des Landes dann endgültig zu einer politischen.
Chaos so oder so
Viele Iraker haben danach die USA für den Abgrund zwischen Sunniten und Schiiten verantwortlich gemacht – doch die Gestaltungsmacht der Besatzer stieß dort an Grenzen, wo die von lokalen Konfliktparteien gesetzt wurden. Oder wie einer der meistgelesenen Kriegsreporter, der irische Journalist Patrick Cockburn, schrieb: Die Supermacht habe im Irak nicht das Wetter gemacht. Gilt trotzdem, dass die USA im Irak einen falschen Krieg führten? Zweifellos war der mit extrem überzeichneten Bedrohungsszenarien im März herbeigezwungene Angriff völkerrechtlich illegal und strategisch eine Fehlkalkulation. Doch das gängige Argument – hätten die USA Saddams Herrschaft nicht beendet, wäre dem Land 2003 ein Bürgerkrieg erspart geblieben – geht fehl: Der Diktator war kein Garant friedlicher Koexistenz in einem sonst unregierbaren Vielvölkerstaat. Niemand trug mehr dazu bei, dass sich die Iraker untereinander hassten und einander nach dem Leben trachteten.
Saddam hielt sich nach 1990 nur noch mit seiner die Gesellschaft spaltenden Feindideologie und einem auf reiner Clan-Loyalität basierenden Sicherheitsapparat an der Macht. Legitimation hatte er in der schiitischen und kurdischen Bevölkerung längst verloren. Selbst unter den Sunniten schien die Akzeptanz seiner Dominanz erschöpft. Es ist unmöglich, zu sagen, was im Irak ohne eine Intervention von außen geschehen wäre; ob sich die Sprengkraft einer jahrzehntelangen Diktatur friedlich hätte kanalisieren lassen. Angesichts dessen, was sich mit dem Arabischen Frühling in der Region abgespielt hat, erscheint es aber plausibel, dass ein Ende des Saddam-Regimes das Land früher oder später auch ohne Einmischung des Westens ins Chaos geführt hätte. Nur ist es ebenso eine Fehlwahrnehmung, dass der Westen – selbst mit massivem Gewalteinsatz – auf die Region langfristig strukturell Einfluss nehmen kann. Überzogener Glaube an eigene Macht war verantwortlich dafür, dass die USA 2003 in Bagdad einmarschierten.
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