Dutschkes irre Argumentation

Moderne Kolumne: Ein Beispiel politischer Abrechnungmit der neuen Linken von 67/68

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In seiner beruflichen Tätigkeit ist der Journalist neben vielfältigen Rücksichten, die er täglich nehmen muss, grundsätzlich mit den Entwicklungslinien der in sich zerrissenen Moderne verbunden. Daher, um zu überleben, darf ihm der Hintergedanke nicht fremd sein. Was aber bleibt angesichts dessen dem Konsumenten von Wort, Bild und Rede außer dem Vorsatz, sich nicht vereinnahmen oder hinters Licht führen zu lassen?

Im ‚Gedenkjahr 2018‘ kommen den Medien zwei dunkel verwobene Ereignisse wie gerufen. Vor 200 Jahren wurde Karl Marx geboren und vor 50 Jahren sein mehr oder weniger modisches Kopfbild auf bundesdeutschen Straßen hochgehalten. Zirkel studierten seine Texte. Im Umkreis der ‚Massendemonstrationen‘ konnte der interessierte Zeitgenosse in einer Art Gegenöffentlichkeit ( ‚Flugblätter‘, Buchläden ) empört nachempfinden, wie die Propaganda-Lüge, in Vietnam verteidigten die USA die Freiheit Westberlins und der Bundesrepublik, ungeniert verbreitet wurde. Da es ein völkerrechtswidriger, verbrecherischer Krieg der USA gegen Vietnam war, schwächte er die Legitimationsgrundlage der westlichen Demokratien, in der Bundesrepublik Deutschland b ediente die erste GroKo die Hebel der Macht. Über die geschichtsträchtigen Aktionen des rebellischen Teils der jüngeren Generation im Nachkriegsdeutschland wird bis heute kontrovers diskutiert. Ihre Ursachen, Begleitumstände und Wirkungen scheinen sich über die Chiffre ‚68er‘ und ‚Jugend- und Studentenrevolte‘ in die aktuellen politischen Auseinandersetzungen unvermeidbar einzuschleichen, um ein seltsam unrealistisches, arrogantes Verständnis der ‚neuen Linken‘ von damals zu konstruieren.

Eine Rezension etwa in polemischer Verpackung ist im journalistischen Geschäft schon wegen ihrer besseren Lesbarkeit legitim. Der Schreiber braucht nur das eingeübte Prinzip der Sparsamkeit der Worte richtig anzuwenden, also alles wegzulassen und zu ignorieren, was sachlich notwendig zu erwähnen wäre, dann geht es flott und regelmäßig um verdeckte Selbstbespiegelung, den eilig ausgepackten Holzhammer. Dem Leser wird so bereits in den Überschriften bedeutet, inwieweit es sich lohnt, irgendwelche ollen Kamellen wiederzukäuen: „Irre entschlossen Wie der bekannteste 68er mit abstrusen Thesen Tausende begeisterte“.* Hier fühlt sich offenbar der Grundgedanke dem vermeintlichen Aufklärungszeitalter verbunden, er stempelt ohne mit der Wimper zu zucken ‚Tausende‘ ab, die in dieser Diktion den sozialpsychologischen Massenbegriff repräsentieren, als wären sie unter den kontrollierten Demokratien im Nachkriegsdeutschland Bestandteile einer faschistischen Manipulationsveranstaltung gewesen.

Dann die relativ nüchterne Vorstellung des Objekts der Rezension, indem die Reizworte der Überschriften gemieden werden, als eine Art Gängelband, um den Leser auf die richtige Spur zu führen: „Der Wagenbach-Verlag bringt unter der Überschrift ‚1968 –Politik ist lesbar‘ eine Reihe alter Texte aus den Jahren um 1968 heraus. Von Peter Brückner, Peter Schneider, Ulrike Meinhof. Das ist eine Chance nachzulesen, wie unlesbar vieles von dem war, was damals geschrieben wurde“.* Das gilt sicher für das Vorurteil, das Dünnbrettbohren gerne zur Norm macht. Bei der Aufzählung fehlt mit Bedacht der Lyriker und zuverlässige Friedenskämpfer Erich Fried, kein Wort zu den selbstkritischen Einlassungen von Peter Schneider. Schriftsteller und Aktivist der 'Anti-Spinger-Kampagne'.

Unter der ‚Reihe alter Texte‘ sollte sich der präventiv abzuschreckende Leser fünf schmale Bändchen vorstellen, die im Sinne des Verlagsprogramms das Prädikat ‚lesbar‘ verdienen, aber ‚vieles‘ davon erscheint dem Rezensenten einfach ‚abstrus‘.

„Ein besonders abschreckendes Beispiel sind die Reden von Rudi Dutschke. Man muss sich auf Youtube seine Stimme vorspielen, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie diese abstrakte, ganz und gar unsinnliche Schrift von dieser Stimme beatmet wurde, wie er den bürokratischen Wendungen eine Energie einspeiste, die für einige Monate in Deutschland Massen ergriff, Geschichte machte“.* Konsequent schlüpft der Journalist nun in die Rolle des Geschichtsschreibers, der mit Halbwissen sein vermutetes ‚linkes‘ Leserpublikum zu beeindrucken versucht: „Wer heute seine Rede auf dem Vietnam-Kongress in Berlin im Februar 1968 liest, wird erschrecken. Die chinesischen Massen, so Dutschke, erkämpften ‚wirkliche sozial-ökonomische Unabhängigkeit‘. Die NPD und ihre Erfolge schiebt er mit einer Handbewegung beiseite. ‚Der heutige Faschismus … liegt im bestehenden System der Institutionen‘. Und die sind nicht mehr in der Lage, die Massen zu mobilisieren. ‚Ganz im Gegensatz dazu ist es uns revolutionären Sozialisten heute in der Bundesrepublik möglich geworden, durch ein System der systematischen Vermittlung von Aufklärung und Aktion eine durchaus schon massenhafte Mobilisierung zu erreichen‘.“* Wollte man an dieser Stelle gegen die Halbwahrheiten ins Feld führen, der journalistische Autor argumentiere geschichtslos, der Einwand würde schnell verblassen, da ja ein Körnchen Wahrheit unter die ‚Massen‘ gestreut wird.

Seine ‚Beweisführung‘ muss zum Kern des Problems kommen: „Ein halbes Jahr zuvor hatte Dutschke in Hannover (nach der Ermordung von Benno Ohnesorg in Berlin anlässlich des Schah-Besuchs ,2.Juni 1967. Anm. des Verf. ) gegen einen Kritiker der SDS-Argumentationen ausgeführt: ‚Die Entwicklungen der Produktivkräfte haben einen Prozesspunkt erreicht, wo die Abschaffung von Hunger, Krieg und Herrschaft materiell möglich geworden ist. Alles hängt vom bewussten Willen der Menschen ab, ihre schon immer von ihnen gemachte Geschichte endlich bewusst zu machen, sie zu kontrollieren, sich zu unterwerfen, das heißt, Professor Habermas, ihr begriffsloser Objektivismus erschlägt das zu emanzipierende Subjekt‘.“ *

Hat Jürgen Habermas, der in Hannover anwesend war, sein scharfes Wort von der Gefahr eines ‚linken Faschismus‘ nicht mehr wiederholt, so war ein Jahr später in seinen Frankfurter Thesen doch noch seine tiefe Enttäuschung über die Entwicklung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) zu spüren. Der war wenige Jahre zuvor als Studentenverband der SPD von der ‚Mutterpartei‘ abgenabelt worden, unter besonderer Mithilfe von Helmut Schmidt, der nach dem Kriege zu seinen Mitgründern zählte. Man muss sich dieser politisch-organisatorischen Entwicklungen erinnern, um zu verstehen, warum im Verlauf der 60er Jahre, im scharfen Zwiespalt von Restauration und Fortschritt der Demokratie, ein hochkarätiges Intellektuelles Potential im und um den SDS sich versammelte. Das war kein Grüppchen junger Leute, die mit Scheuklappen ihre ganz speziellen Karrieren planten.

Dies ist wichtig im Zusammenhang mit dem Problem der realgeschichtlichen Rekonstruktion einer Linken in Deutschland, die heute schwach ist. Das besondere Gewicht dieses Fragenkomplexes wird dann spürbar, wenn man an die hasserfüllten Ausfälle der AFD gegen jeden demokratischen Fortschritt, an Schwächen und Scheinblüten der SPD, die Gründung und Entwicklung der Bündnisgrünen, der Linken denkt. Werden sie sich wehren, wenn es drauf ankommt? Auch bei den Unionsparteien ist die Geschichte nicht stehen geblieben, denn erstmals ist ‚ihre‘ Kanzlerin eingekeilt in innerparteilich unlösbare Widersprüche. Ich denke, auch als Rezensent des Rezensenten lohnt ein genaues Hinschauen. Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass unser Kolumnist die 68er Diskussion unter Linken** für seine Polemik missbraucht, die auch an den empirischen Tatbestand des Nachtretens auf unseren Schulhöfen denken lassen könnte.

Nach dem Dutschke-Zitat: „Die Argumentation ist komplett irre: Habermas hindert die Menschen daran, Revolution zu machen. Ohne ihn wären sie so weit, sich die Geschichte ‚zu unterwerfen‘ Blickt man aber in die Sätze hinein, hört, wie Zitate skandiert und aufeinandergetürmt werden, dann spürt man den Willen, die Entschlossenheit, etwas zu tun. Man weiß nicht, wozu und man weiß nicht was. Aber der Einschub an Habermas steht da wie ein Sprungbrett, von dem aus der Redner noch einmal weiter vorstößt in eine Welt, von der man kaum zu träumen wagt“.* Abschließend, selbstzufrieden und ironisch distanzierend greift er nochmal an einem Schwachpunkt der 68er Organisatoren an, die sich ihrer Schwächen bewusst waren: „Interessant ist, dass nicht von dem sich emanzipierenden Subjekt die Rede ist. Dadurch wird es zum Objekt seiner Emanzipierer gemacht. Die, also Dutschke & Co., sind die wahren Subjekte. Vielleicht nicht objektiv, aber weil sie es wollen.“ Arno Widmann*

Hier gilt es dem Geschwafel über die „Welt, von der man kaum zu träumen wagt“ und von den „wahren Subjekten“ der „Dutschke&Co.“ ein Ende zu setzen. Jürgen Habermas hatte in seinen Frankfurter Juni Thesen die Schärfe seiner Kritik am SDS etwas zurückgenommen und festgestellt, dass die entpolitisierende Funktion ‚publizistischer Großunternehmen‘ in den gesellschaftlichen Rahmen passe, um die schwächer werdende Legitimationsgrundlage des staatskapitalistischen Systems abzusichern. So kann der ‚Verleger‘ privat nach Lust und Laune 'ausbeuterisch‘ in den Gesamtprozess der politischen Willensbildung eingreifen. Die Erfolge der Studenten- und Schülerbewegung begründet er mit „der phantasiereichen Erfindung neuer Demonstrationstechniken“.** Für problematisch hält er die Überziehung dieser Methoden im Falle des notwendigen Kampfes gegen die möglichen antidemokratischen Wirkungen der gerade verabschiedeten ‚Notstandsgesetze‘, wofür die Gewerkschaften unbedingt gebraucht werden. Und hinsichtlich des zentralen Punktes der Marx-Diskussion bis heute erklärte er: „Ich kenne keine empirische Untersuchung des gegenwärtigen Wirtschaftssystems, die auf einer Anwendung der Arbeitswerttheorie beruht. Deren Geltung müssen wir dahin gestellt sein lassen“.**

Er ignoriert aber eben nicht im Sommer 1968, dass inzwischen –Ostern 1968- aus dem ‚Subjekt‘ Rudi Dutschke vor dem SDS-Büro am Kurfürstendamm in Berlin das Objekt einer Mordaktion geworden war. Das kämpfte lange Jahre gegen die schweren Folgen der Kopfschüsse. In Wahrheit hatte die geübte und langjährige Hetze der Springer-Presse gegen die ‚langhaarigen Affen‘ die Waffe geführt. Rudi Dutschke nahm Anteil am Gründungsprozess der Grünen Partei, bevor er 1979 in Dänemark starb.

Was das unmittelbare Motiv des Anschlags angeht, legt Wolfgang Kraushaar*** einen interessanten Aspekt dar, der heute in einer differenzierten Beurteilung angelegt sein muss: Der Neo-Nazi Josef Bachmann, der mit seinem Trommelrevolver aus München nach Berlin gereist war, hatte sich gut präpariert. Er hatte dokumentarisches Material der 'Deutschen Nationalzeitung und Soldatenzeitung' dabei. Die Meldebehörde in Berlin hatte ihm sinnigerweise mit dem Hinweis geholfen, wo er Rudi Dutschke antreffen könne: Berlin 31, Kurfürstendamm 140.

Besondere Aspekte der damaligen Umbrüche und Probleme während der ersten Groko der Bundesrepublik Deutschland beschreibt Reimut Reiche aus Sicht des SDS in Form einer sozialpsychologischen Argumentation**. Der ‚Studentenbund‘ geriet unter Druck nicht nur in seiner hochschul-politischen Funktion und wegen der breiten Zustimmung zu seiner Denkschrift ‚Hochschule in der Demokratie‘ aus den ersten 60er Jahren, sondern auch in Bezug auf das, was damals im Sinne eines antiautoritären Traditionsbruchs ‚neue Sensibilität‘ genannt wurde. Reiche hält kritisch fest, dass Habermas es den herrschenden Kräften leicht gemacht habe, die „ganze politische Bewegung zu verurteilen“ und so die unter enormen Druck geratene Jugend psychologisch gezwungen sei, „auch die politisch richtigen Anteile der Habermas’schen Kritik abzuwehren“.**

Er schildert den Status der Ohnmächtigen und die problematischen Möglichkeiten ihrer Politisierung in einer Kapital verwertenden Ellenbogen- und auf unkritischen Konsum getrimmten Gesellschaft. Bis heute tauchen periodisch die Berliner Kommunarden und die Frankfurter Kaufhausbrandstifter in ihrer moralisch zwiespältigen Rolle als publizistische Schlaglichter auf.

Der SDS, auch Jürgen Habermas, hatte ein ernstes Problem damit: „Die politisch-psychologische Motivation der Kaufhausbrandstifter könnte man aber aus der Erklärung eines Kommune-I-Protagonisten (der deswegen aus dem SDS ausgeschlossen wurde:>Was geht mich der Vietnam-Krieg an, solange ich Orgasmusschwierigkeiten habe<) so rekonstruieren: Warum sollen wir das amerikanische Generalkonsulat in Frankfurt anzünden, wo wir vom Konsumzwang und vom industriell produzierten Textilfetischismus weiß Gott täglich mehr terrorisiert werden als vom Krieg in Vietnam? Selbst Habermas sagt, dass die emotionale Identifikation mit dem Vietkong keinen politischen Stellenwert hat (These 4). Der Konsumterror in den Metropolen funktioniert aber als eines der zentralen politischen Integrations- und psychischen Versklavungsmittel; der Kampf dagegen hat wirklich einen politischen Stellenwert, - Ich fühle mich nicht berechtigt, die moralische und politische Logik dieser Argumentation für irre zu erklären. Ich halte nur die von den Brandstiftern gezogenen politischen Konsequenzen, die Ebene ihrer Aktion, für falsch. Müssen sie darum aus der politischen Organisation ausgeschlossen werden? Nach allen Definitionen politischer Organisationen: Ja.“** Dass Reimut Reiche eine solche Kapitulation vor der Notwendigkeit einer breiten Politisierung 1968 erklärtermaßen nicht mitgemacht hätte, zeugt vom starken Willen zur Demokratie.

*Arno Widmann FÜR SIE GELESEN 24.März 2018 in Frankfurter Rundschau

**Die Linke antwortet Jürgen Habermas, Ffm. 1968 Herausgeber Oskar Negt. Hier sind auch die am 1. Juni 1968 von Jürgen Habermas vorgetragenen Thesen vorangestellt, welche die Frankfurter Rundschau unter den Überschriften „Die Scheinrevolution und ihre Kinder Sechs Thesen über Taktik, Ziele und Situationsanalysen der oppositionellen Jugend“ am 5.Juni 1968 druckt – und die im Kern Habermas‘ Kritik am deutschen SDS beinhalten, nachdem er die europäischen und amerikanischen Erfahrungen mit dem oppositionellen Auftreten der Jugend zusammengefasst hat.

***Wolfgang Kraushaar, 1968 (100 Seiten) Ditzingen 2018

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ernst H. Stiebeling

Diplomsoziologe.Als Lehrer gearbeitet.Freier Publizist.Kultur-,Wissenschafts-,Politikthemen

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