Stabilität

Minderheitsregierung Die Krisentendenz der populistischen Volksparteien fordert erhöhte Verantwortung der Demokraten heraus. Der Stabilitätswahn ist faule Ausrede angesichts tiefen Wandels.

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Die unpopuläre Perspektive der Septemberwahl beinhaltet gewichtige Risiken. Die ‚Streitereien‘ vor und hinter den Kulissen sind nur schwer durchschaubar, gelten wohl auch als unangemessener Politklamauk, der die politische Krise der sogenannten Volksparteien verdeckt und die geschäftsführende Kanzlerin, Angela Merkel, zur Getriebenen stabilen Regierens macht. Ihre Art des moderierenden Herrschens ist auf satte Mehrheiten angewiesen. Sie bewegt sich also von Natur aus abwehrend gegen die Möglichkeit einer Minderheitsregierung. Als geradezu tückisch jedoch muss man die Suche nach Stabilität in einer Zeit der beschleunigten Veränderungen und der Instabilität bezeichnen. Wenn nun auch der Wille zur Einigung auf ein tragfähiges Regierungsprogramm nicht lebendig ist, wird die gewohnheitsmäßige Ideologie unter dem Namen ‚keine Experimente‘ oder ‚Bewahrung der Stabilität‘ ein größeres Wagnis als sich ihre Erfinder vorstellen. Es werden nämlich die schwer wiegenden ökonomisch-gesellschaftlichen Konflikte weiterhin verhüllt und denkbare Lösungsansätze vor sich hergeschoben.

Die politischen Kräfte, die in Anlehnung an Feldherren-Ideologie im Lager ‚links der Mitte‘ geortet werden, sollen sich nicht einbilden, dass ihnen die Krise des politischen Geschäfts einen bequemen Ruhesessel in die parlamentarische Arena stellt. Ihre Fähigkeit zu überzeugenden Auseinandersetzungen und Lösungsangeboten ist in erhöhtem Maße herausgefordert. Andererseits haben noch am Wahlabend die aus ihren Stammgruppen exilierten Völkischen zur Hetz - Jagt geblasen. Der großsprecherische Geist hinter der Floskel kann nicht verharmlost werden. Jedenfalls nicht, bis ihn der Pleitegeier holt. Denn der Kredit des ‚nationalen‘ Einheitsbreis und seiner idyllischen Verherrlichung ist aufgebraucht.

Aber es werden notwendige Veränderungen der politischen Kultur, der Entwicklung von Reformansätzen nicht automatisch vom Himmel fallen. Es muss eine spürbare Hebung derjenigen stattfinden, denen permanent aus unterschiedlichen Gründen eine würdige Partizipation am gesellschaftlichen Leben verwehrt wird. Und von ihnen wird ein begründetes, aktives Mittun verlangt.

Der Populismus der ‚Volksparteien‘ ist selbstkritisch zu hinterfragen. Ebenso die Rolle der kleineren Parteien, die potenzielle Koalitionspartner oder parlamentarische Opposition sein wollen.. Die grundlegende Reformfrage steht: Wie kann verhärtete, korrupte Politikpraxis verändert oder gar überwunden werden? Durch eine selbstkritische, systematische, bewusste Untersuchung von Standpunkten der parlamentarischen Konkurrenz, die mit den eigenen Bestrebungen nicht im unversönlichen Gegensatz stehen. Gewönne die parlamentarische Demokratie an Substanz, wenn das Wagnis einer Minderheitsregierung in der Krise ernsthaft eingegangen würde?

Wären die geschäftsführende Kanzlerin und ihre gespaltenen, staatstragenden Unionsparteien zu einer solchen Wende in der Lage? Das setzte voraus, sie hätten ihre Septemperschlappe begriffen. Wir kennen aber nicht einmal den Stand und Zustand der inneren Auseinandersetzung um die politische Linie bei den Parteien einer ‚Jamaika-Koalition‘, die von den ‚Freiheitlichen‘ nach Sondierungen als ‚kalter Kaffee‘ verschmäht wurde. Wir können daher auch nicht wissen, ob eine Minderheitsregierung entsprechend der gesetzlichen Vorgaben gebildet werden könnte. Die Kanzlerin will ja nicht flüchten. Folgt die Mehrheit der Parlamentarier und der gerupften Parteien doch dem Wahn eines vorauseilenden Stabilitätsgehorsams?

Wiederholung der September-Wahl, in öffentlicher Sprachregelung euphemistisch als Neuwahl ausgegeben, wäre angesichts der Tatsache, dass wir ein arbeitsfähiges Parlament haben, nur eine putschistische Wählerbeschimpfung. Wegen ihres antidemokratischen Affronts könnte diese sich auswachsen zu einem GAU der Nachkriegsdemokratie. Abenteuerlich, fahrlässig herbeigeführt. Nicht irgendeiner Stammesideologie sollte demokratisches Regieren zum Fraß vorgeworfen werden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ernst H. Stiebeling

Diplomsoziologe.Als Lehrer gearbeitet.Freier Publizist.Kultur-,Wissenschafts-,Politikthemen

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