Vom Zweier- zum Dreierbündnis

GroKo kaputt Nach Bundestagswahl und Sondierungen: >CDU - Staat< ade?

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Ja, am 26. September ist in Deutschland eine knappe Entscheidung gefallen. Das Wahlvolk hat sich differenziert eines Symbols bemächtigt. Die Ampel steht für Regulierung von Risiken, die im zweiten Jahr der Covid - 19 Pandemie unübersichtliche Ausmaße angenommen haben. Der konzentrierte Blick auf die Verkehrsampel reagiert auf die gleiche Logik wie Aktivitäten des Problem behafteten ‚Fürsorgestaats‘ und der respektvolle, zivilisierte Umgang der Bürger miteinander; die schädlichen Folgen des Klimawandels und der Wirtschaftsordnung, all diese Sachen müssen jetzt den politischen Kümmerern am Herzen liegen. Sie fallen allerdings nicht direkt vom Himmel des Wahlvolks.

Zu bedenken ist also, dass diese Entscheidung nach Verfassungslage nur indirekt wirksam sein kann, über den Filter der Parteien. Die Wahlbeteiligung beträgt nur 76%. Pläne, beispielsweise das Wahlalter auf 16 zu senken, Cannabis zu legalisieren, den Mindestlohn auf 12 Euro festzusetzen, Investitionen für ein konkurrenzfähiges Deutschland in einer handlungsfähigen EU werden harte Nüsse sein: Im Verhältnis zum tief verankerten Konservatismus in unserem Land, der nun eine Erschütterung erlebt. Noch sind die Verhandlungen zu einer Ampel-Regierung nicht richtig im Gange, da hören wir schon die höhnischen Warnungen vom „strammen Linkskurs“ und „sozialen Füllhorn“, die von der Ampel ‚geplant‘ seien. Hilfloser Aufschrei anachronistischer Politik?

Wer ein solches Unverständnis der wirklichen Verhältnisse an den Tag legt, dem sollten unangenehme Zeiten ins Haus stehen. Denn es ist klar, dass dringend notwendige Modernisierung der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Strukturen des Landes von den zitierten Kreisen nur als Blockadepolitik ins Auge gefasst wird. Da die Liberalen behutsam sich aus diesem Verbund zu lösen beginnen, wie seinerzeit bei der Ablösung der ersten GroKo Anno 1969, bleiben den Unionsparteien als ernst zu nehmende Bündnispartner ihre eigenen Exilanten und deren demagogisch verwurschtelter Patriotismus und Nationalismus. Mindestens 10 von 100 Wählern favorisieren diese Ismen. Nimmt man die 24% der Union hinzu, so ist 1/3 der 735 Parlamentarier vor jeder Erfahrung auf eine gründliche Opposition eingestimmt. Und das ist gut. Ob diese erwartbare Tatsache auch geeignet ist, den relativen Quarantäne-Status der Rechtsextremen im Parlament zu lockern, wird spannend zu beobachten sein.

Das Problem der Halbwahrheiten in der öffentlichen Auseinandersetzung tendiert immer wieder dazu, eine fortschrittliche Entwicklung in der EU zu stören und zu blockieren. Der deutschen Sozialdemokratie und den Bündnisgrünen könnte sich nun eine wirkliche Chance bieten, ihrer schamlosen Diffamierung als unzuverlässige ‚Gesellen‘ und bedenkenlose Statthalter einer staatsgläubigen Politik oder gar radikal-sozialistischen ‚Gefahr‘ entgegenzuwirken als die bessere demokratische Alternative. Sie können praktisch beweisen, dass Menschenrechte und individuelle Freiheiten unter einem reformfreudigen Regime keine leeren Phrasen sind und Rüstungspolitik keine Geheimniskrämerei und vor allem kein Mittel sein muss, Kriege anzuheizen. Es ist da auch an unsere besonderen Beziehungen zum korrupten Kalifen in Ankara zu denken, der die türkische Demokratie schon fast erwürgt hat.

Ist dem bevorstehenden Marathon der alten deutschen Sozialdemokratie, die Olaf Scholz als Typ des sozial- liberalen Kanzlerkandidaten aufgeboten hat, ein nachhaltiger Erfolg zuzutrauen oder nur ein Strohfeuer? Im ersten Fall gilt: Bleiben die politischen Bündnispartner, die sich jetzt herauskristallisiert haben, für 2 Legislaturperioden bei der Stange, ohne sich nach den gewohnten Mustern zu blockieren – ja! Und dann sollte ernsthaft die wahnhafte Anti ‚links‘ Propaganda der sogenannten bürgerlichen Parteien, die im Wahlkampf eine zentrale Rolle gespielt hat wie schon unzählige mal zuvor, kontinuierlich und beharrlich aufgelöst und eine demokratische Geisteshaltung neu geformt werden. Neben den gravierenden Tatsachen der heutigen Umbrüche könnte auch der exilierte demokratische Freigeist deutscher Zunge als Anknüpfung für das Bohren dicker Bretter geeignet erscheinen:

„Dieses Bekenntnis, daß die Zukunft den Kommunisten gehört, dieses Bekenntnis machte ich in einem Ton der Besorgnis und äußersten Furcht, und ach! das war keineswegs Verstellung! Wahrhaftig, nur mit Schauder und Schrecken denke ich an die Zeit, da diese finsteren Bilderstürmer zur Herrschaft gelangen werden; mit ihren schwieligen Händen werden sie erbarmungslos alle Marmorstatuen der Schönheit zerbrechen, die meinem Herzen so teuer sind; sie werden alle jene Spielereien und phantastischen Nichtigkeiten der Kunst zerschmettern, die der Dichter so sehr liebte; sie werden meine Lorbeerhaine zerstören und dort Kartoffeln anpflanzen; die Lilien, die weder spannen noch arbeiteten und doch ebenso herrlich gekleidet waren wie der König Salomo in aller seiner Pracht, sie werden ausgerissen werden aus dem Boden der Gesellschaft, es sei denn, sie nehmen die Spindel zur Hand; die Rosen, jene müßigen Bräute der Nachtigallen, diese unnützen Sänger, werden vertrieben werden, und ach! mein Buch der Lieder wird dem Gewürzkrämer dazu dienen, Tüten zu drehen, in die er den armen alten Frauen der Zukunft Kaffee und Tabak schütten wird. Ach! ich sehe all dies voraus, und ich bin von einer unaussprechlichen Traurigkeit ergriffen, wenn ich an den Verfall denke, mit dem das siegreiche Proletariat meine Verse bedroht, die mit der ganzen alten romantischen Welt vergehen werden. Und dennoch, ich bekenne es mit Freimut, übt eben dieser Kommunismus, so feindlich er allen meinen Interessen und meinen Neigungen ist, auf meine Seele einen Reiz aus, dem ich mich nicht entziehen kann.“ Heinrich Heine Vorrede zu Lutezia Paris 1855

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ernst H. Stiebeling

Diplomsoziologe.Als Lehrer gearbeitet.Freier Publizist.Kultur-,Wissenschafts-,Politikthemen

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