Brauchen wir eine Leitkultur?

Leitkultur Ein Essay, eingereicht zum diesjährigen Essaywettbewerb der deutschen Gesellschaft e.V. Gewonnen hat er nichts, aber das macht nichts.

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Brauchen wir eine Leitkultur?

Foto: Maurice Hibberd/Getty Images/AFP

„Substantiv, feminin - führende, zentrale Kultur“, steht im Duden hinter dem Wort „Leitkultur“. Lange starre ich diese Definition an. Ich verstehe sie nicht. Als ich das erste Mal im Radio von De Maizières Thesen hörte, fragte ich mich, ob etwas mit meinen Ohren nicht stimmte. Dann begegnete mir der Begriff, den ich nie zuvor ernsthaft wahrgenommen hatte, ständig. Ich finde das Wort immer noch merkwürdig. Für mein Verständnis birgt das Wort einen Widerspruch in sich und ist damit irgendwie auch ein Stellvertreterchen für unsere derzeitige Dekade, denn wir leben im Jahrzehnt der Widersprüche. Aber dazu später mehr.

Fangen wir an mit dem zweiten Teil des Wortes, dem Begriff „Kultur“:
Wie oft habe ich aufgrund meines Studiums schon an Diskussionen über die Definition des Kulturbegriffs partizipiert – sowohl aktiv auch als passiv. In all diesen Gesprächen kam immer dasselbe raus: Es gibt keinen einheitlichen Kulturbegriff. Und selbst wenn man sich dann doch auf irgendeine Definition einigen konnte, gab es immer noch Unterscheidungen innerhalb dieser. Sagen wir beispielsweise, Kultur ist alles, was aus Menschenhand erschaffen wurde, dann kann dieser Begriff noch weiter spezifiziert werden, denn Kategorien sind heutzutage ja ohnehin was tolles, alles was nicht kategorisierbar ist, existiert de facto gar nicht. Eine konservative Kategorisierung von Kultur ist beispielsweise jene, der westlichen Kultur „die andere“ Kultur gegenüberzustellen. Damit werden die heterogensten Kulturkreise und auch die verschiedensten Religionen – die sich teilweise untereinander spinnefeind sind - in einen Topf geworfen. Natürlich werden solcherlei Definitionen in den Geisteswissenschaften oft harsch kritisiert, was auch vollkommen richtig ist. Was meiner Empfindung nach jedoch zu oft in den Hintergrund rückt, ist die Kritik daran, dass auch „der Westen“, dieser unglaublich fortschrittliche Okzident, eine Kultur sein soll. Unter dieser „westlichen Kultur“ werden gängigerweise Nordamerika und Europa zusammengefasst; Länder christlicher Tradition, die Werte wie Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Demokratie Gleichheit und Menschenwürde vertreten. In vielen europäischen Ländern sitzen heute hingegen rechtspopulistische Parteien. Wenn aber Europa so voller „westlicher“, zu erstrebenswerter Werte sein soll, wie konnte solche Politik dann derartige Erfolge einheimsen?
Aber auch wenn man den Leitkultur-Begriff zunächst nur auf Deutschland anwenden möchte, also auf nur ein Land, sehe ich keine homogene Kultur. Deutschland ist Vielfalt, nicht nur weil es ein föderales Land ist, auch in kultureller Hinsicht. Im Süden sagen die Menschen „Servus“ und im Norden heißt es „Moin“. Es heißt, der Karneval gehört zu Deutschland, aber in Hamburg oder Rostock bleiben die Straßen am Rosenmontag leer.

De Maizière sagt, wenn wir uns begrüßen, geben wir uns die Hand und nennen unsere Namen. Wenn ich das nächste Mal Brötchen kaufe, werde ich dem Bäcker also die Hand schütteln und sagen: „Hallo, ich bin Ann-Cathrin und ich hätte gerne zwei Mohnbrötchen.“ Ich möchte ja eine gute Bürgerin sein. De Maizière sagt auch, wir seien nicht Burka. Ich hielt mich immer für einen Menschen und ich glaube, dass sich die Anzahl der Menschen, die denken, sie seien eine Burka, auf null bis eins beläuft und eins auch nur im berauschten Zustand. Falls er damit meinte, dass Burkas nicht zur hiesigen Kultur gehörten, finde ich den Satz grammatikalisch äußert unpassend. Insbesondere in Anbetracht einer weiteren These, die da lautet: „Wir sehen Bildung und Erziehung als Wert“ - Grammatik gehört heute dann offenbar nicht mehr zur Bildung dazu. Was mich aber viel mehr verstimmt: Ich bezweifle, dass es hierzulande überhaupt eine erwähnenswerte Anzahl Burka tragender Frauen gibt. Zweimal in meinem Leben sah ich jeweils eine mit einem Niqab – einer Vollverschleierung, bei der die Augen noch zu sehen sind. Eine Burka, also eine Komplettverschleierung – nein, so etwas habe ich hier noch nie jemanden tragen sehen. Burkas kenne ich eigentlich nur aus den Medien. Ist die Debatte um die Verschleierung nicht in Wirklichkeit die Verschleierung von notwendigeren Debatte? Es wird gefürchtet, dass die Errungenschaften der weiblichen Emanzipation zurück gedrängt werden könnten. Es wird Sexismus in anderen Kulturen angeprangert, während Werbetreibende ihre Produkte hierzulande oftmals sexistisch vermarkten, zum Beispiel durch die Darstellung von Rollenklischees. Und von wem berichten die zahlreichen Frauen nochmal hauptsächlich unter #metoo? Vom dunkelhäutigen, fremden Syrer? Nein, vom weißen, heimischen Mann. Indem versucht wird, Frauen aus anderen Kulturkreisen ihren Kleidungsstil vorzuschreiben, stellt man sich zudem in die gleiche Ecke, wie die Anhänger des Patriarchats, die man eigentlich anklagen wollte. Ich sagte ja bereits, dass die derzeitige Dekade voller Widersprüche ist. Und so sehe ich auch das Wort „Leitkultur“ als einen Widerspruch in sich: Leiten heißt dirigieren. Geleitet werden heißt, dass jemand einen führt. Im Gegensatz dazu steht das Wort Kultur. Kultur ist etwas, was von innen heraus kommt, vom Volk. Das Wort Leitkultur impliziert also, dass der Kultur nun irgendetwas hierarchisches inhärent sei und es an einem Ort Kulturen mit mehr Macht gibt und solche mit weniger– da stellt sich mir die Frage wie Kultur überhaupt Macht haben kann. Wenn man nun aber konstatiert, jene Kultur, ist die Leitkultur, die von den meisten ausgeführt wird, was hat das dann mit Leiten zu tun? Ist es nicht vielmehr die Überzeugung von Werten, für die wir selbst einstehen, von denen wir bereits überzeugt sind, weil wir wissen, dass die Werte uns ein gutes Leben ermöglichen können? Aber wer hat gesagt, dass die Menschen, die hierher kommen, von diesen Werten nicht auch überzeugt sind?

Ich habe das Glück, in einem reichen Land aufgewachsen zu sein, in Frieden. Ich durfte zur Schule gehen und Abitur machen und hatte den Raum, mich mit der Gesellschaft und Werten auseinanderzusetzen. Ich konnte für mich entscheiden, dass ich die sogenannten „westlichen Werte“ Grundsatz für richtig halte. Aber nicht jeder Mensch ist in dieser vorteilhaften Position aufgewachsen, im Gegenteil. Ich glaube, dass der Wohlstand unseres Landes uns Debatten über Gesellschaft an sich erleichtert. Jedoch darf man niemals aus dem Blick verlieren, dass unser heutiger Wohlstand auf einer Geschichte basiert, die nicht unbefleckt ist. Der Havard-Historiker Sven Beckert hat in seinem Buch die Entstehungsgeschichte des globalen Kapitalismus anhand des Baumwoll-Handels erörtert und dabei wurde sehr deutlich, dass das Erstarken des Kapitalismus (und damit der Aufschwung des wirtschaftlichen Wohlstandes) untrennbar verbunden war mit dem Sklavenhandel in den USA*. Und das ist nur ein Beispiel von tausenden Opfern, die der Kapitalismus brauchte und auch gegenwärtig ist er sehr sehr hungrig. Die Wirtschaft hat unser Land groß gemacht indem es andere klein gehalten hat – und tut es noch. Ich denke, auch die Konsumgesellschaft gehört zur hiesigen Kultur und diese widerspricht den „christlichen und westlichen“ Werten. Ich könnte sehr viele Beispiele nennen, nenne jetzt aber nur eines: Zu unserer Kultur gehört es Weihnachten zu feiern – die Geburt Jesus Christus. Im Christentum sind Bescheidenheit und Demut erwünscht. Stattdessen feiern wir das Fest indem wir uns reichlich beschenken und massenweise Essen. Die Industrie stimmt sich bereits im September auf das nette Kassenklingeln ein.

Viele der zahlreichen Gegner des konfusen Begriffes „Leitkultur“ negieren diesen, indem sie sich auf das Grundgesetz berufen. Sie sagen, dass das Grundgesetz uns leiten sollte. In der Theorie hört sich das passabel an, doch in der Praxis bin ich gegen diese Rechtfertigung. Denn unser Grundgesetz ist veraltet und basiert auf dem Jahr 1949. Die Justiz als Grundwert anzuerkennen, ist ohnehin mehr als schwierig. Beispielsweise war es in bis in die 1990er hinein legal, wenn der Ehemann seine Ehefrau vergewaltigte. Und bis heute ist es nicht wirklich eine Straftat, wenn Frauen begrapscht werden. Wie wäre es also zunächst einmal mit einer Reformierung der Justiz?
Ich finde Rechtsstaatlichkeit vom Prinzip her richtig, aber unsere sogenannten „westlichen Werte“ basieren alle auf jahrhundertelangen Errungenschaften, denen anstrengende, lange Kämpfe voraus gingen. Und das wichtigste ist wohl, dass der Kampf um die Werte noch lang nicht beendet ist, nur heute basiert der Kampf auf dem bislang Errungenen, oder besser „Erbeutetem"?

Ich wohne sehr nah am Meer, an der Ostsee. Oft gehe ich am Strand spazieren und blicke auf die Schiffe am Horizont. Manchmal denke ich dann an das Mittelmeer, an die Menschen in überfüllten Booten, die versuchen, europäisches Festland zu erreichen. Vor nicht allzu langer Zeit sah ich einen sehr jungen Kapitän in der Tagesschau, der eines der Schiffe steuerte, welches die sinkenden Boote rettete. Es seien zu viele Menschen auf den Booten. Und es waren viele Boote. Er müsse entscheiden, wen er rettete und wen nicht. Als er diese Worte sagte, musste er beinahe weinen. Ich weinte. Ich glaube, diese Menschen, die vor Terror und Krieg fliehen, sind erst einmal froh in Sicherheit zu sein. Vielleicht sind sie traumatisiert, vielleicht bangen sie um ihre Familien, die noch in Unsicherheit leben. Ich glaube nicht, dass viel Zeit bleibt, sich Gedanken über das Händeschütteln zu machen. Ich finde es unwürdig, diese Menschen mit einer Debatte um die Leitkultur zu begrüßen, an der sie zudem kaum selbst partizipieren. Ich dachte die Würde des Menschen sei unantastbar?

*Beckert, Sven: Empire of Cotton. A Global History. Knopf, New York 2014

Der Text wurde vor Kurzem nochmal von mir geändert.

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