Der Kapitalismus inkorporiert Revolutionen

Kapitalismuskritikkritik Französische Soziologen haben den Kapitalismus auf interessante Weise analysiert. Die Kritik an ihm ist ein Teufelskreis

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Der Kapitalismus inkorporiert Revolutionen

Bild: AC He/Flickr (CC BY 2.0)

Es ist nun schon zwei Jahre her, dass ich mich intensiv mit Luc Boltanskis und Ève Chiapellos „neuem Geist des Kapitalismus“ beschäftigte. Dennoch ist es ein Werk, welches meine Gedanken nicht mehr loslässt. Vor allem ist es nach wie vor diskussionswürdig – lasset die Streits beginnen!


Wer feiert eigentlich noch den Kapitalismus? Wissen wir doch längst über seine ausbeuterischen Strukturen Bescheid. Und doch: Wir alle tun es irgendwie, sofern wir kein autarkes Leben führen. Das beweist doch schon unser Gang zum Supermarkt.

Boltanski und Chiapello haben „die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus“ von Max Weber neu gedacht: Für sie steht fest, dass die Partizipation am kapitalistischen System nicht nur monetäre Anreize hat, sondern immer in einer Polis verankert ist, einer Art gesellschaftlichen Werte-Konsens. Dieser Aspekt ist sehr interessant, aber im Folgenden soll es um etwas anderes gehen: Die Kritik am Kapitalismus! Die beiden Soziologen schreiben, dass jegliche Kritik am Kapitalismus von eben diesem für sich vereinnahmt wurde und ihn gestärkt hat. Gewagte These, aber - irgendwie trifft es das auch ziemlich auf den Punkt.

In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gab es sie: Die Revolution. Die 1968er-Bewegung. Meine Eltern, 1953 und 1957 geboren, waren zwar nicht beteiligt, jedoch sagen sie heute, dass es wohl die größte Errungenschaft für unsere heutigen Freiheiten war. Ihrer Meinung nach hat diese Revolution zum bunten Leben in den folgenden Jahrzehnten beigetragen: zur lebendigen Musikkultur, eine neue Modeszene, zum Feminismus, ach- überhaupt hat sie undenklich viele gute Sachen hervorgebracht.
Doch trotzdem bedarf es heute dringend einer neuen Revolution. Denn, Boltanski und Chiapello haben Recht, wenn sie schreiben, dass der Kapitalismus die Sozialkritik und Künstlerkritik der 68er sich zu eigen gemacht hat, dass es zwar besagte Errungenschaften gab, dass diese aber alle fein in das kapitalistische Rad integriert wurden.
Der Wunsch nach Authentizität, autonomen Status, Unabhängigkeit, Selbstverwirklichung im Arbeitsleben hat sich in einer Netztwerkgesellschaft der flachen Hierarchien manifestiert, die gerne Niedriglöhne verteilt und Überstunden toll findet – you can work everytime everywhere! Unsere Smartphones ermöglichen uns ein Allzeit-bereit für die Wirtschaftsordnung.

Auch interessant ist, dass sich diese These, nämlich dass die Kritik am Kapitalismus von diesem inkorporiert wird, tatsächlich auf alle Lebensbereiche irgendwie anwenden lässt. Beispielsweise auf die Veganismusbewegung. Es geht hier darum, die ausbeuterischen Strukturen zu überwinden, um Kritik an Massentierhaltungsindustrien, an Soja-Monokulturen in fernen Ländern, an CO2-Ausstoß und alles im Einem eigentlich am System an sich. Firmen wie Rügenwalder schreien auf, sehen ein paar protestierende Vegetarier und Veganer: Ohje, da müssen wir doch mal was Gutes für euch tun! Und schon hat der Tiervernichtungsbetrieb sich ein Geschenk ausgedacht: Pflanzliche Würste für die Kritiker. Und tatsächlich, Viele jubeln, Viele verstummen, Viele haben Vieles nicht verstanden. Aber nicht nur Nischen sind von der Kritik-Inkorporation betroffen: Die Pornoindustrie hat sich beispielsweise die "sexuelle Befreiung" zu eigen gemacht und dafür gesorgt, dass es keine Befreiung mehr ist.

Ich wünsche mir, dass es eine neue Revolution gibt, eine wahrhaftige, die den Wahnsinn der Gesellschaft mehr denn je in Frage stellt und doch habe ich Angst, dass mein größter Feind, der Kapitalismus, sich der Maxime bedient, dass man seinen Feind zum Freund machen soll und wieder alles nur einen Kapitalismus 4.0 (oder so) hervorbringt.

Die Reaktionen auf die Kritik erinnern mich an ein hüftkrankes Pferd, dass eigentlich einen Osteopathen braucht, aber nur von einem Tierarzt behandelt wird. Der Tierarzt behandelt zwar die Symptome, aber nicht die Ursachen (man könnte natürlich auch menschliche Leiden als Metapher nennen, aber Pferde sind viel schöner). Die Revolution von 1968 hat patriarchalische Strukturen angegriffen, sexuelle Selbstbestimmung errungen, jedoch nicht die Ursache für die Missstände bekämpfen können: den Kapitalismus selbst. Und deswegen rücken viele Errungenschaften gerade wieder in weite Ferne. Schon Büchners Danton wusste: Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder! Na dann, guten Appetit, Frau Revolution.

Gut, ich bin noch zu jung, um mich als Welterklärerin zu versuchen, denke ich. Sorry dafür. Vielleicht ist mein jugendlicher Leichtsinn noch zu naiv für diese undurchdringliche Welt. Egal, ihr könnt ja widersprechen.

Luc Boltanski, Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. UVK, Konstanz 2003

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