Krastevs Europadämmerung

Europakrise Ein Einblick in eine interessante Analyse zum Verfall der EU

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Krastevs Europadämmerung

Foto: Christopher Furlong/Getty Images


Die deutsche Übersetzung ist unheilvoll. Der Originaltitel (After Europe) verheißt auch nichts Gutes. Ja, es ist ein pessimistischer Aufsatz, den der bulgarische Politologe Ivan Krastev verfasst hat. Er analysiert das „Projekt Europa“ aus einem osteuropäischen Blickwinkel heraus. Dabei wertet er nicht, zeigt keinen moralischen Zeigefinger und malt trotz allen Pessimismus keine europäische Dystopie, sondern argumentiert sachlich wie es zum zerklüfteten Europa kommen konnte und auf welch wackeligen Beinen die europäische Union steht. Im Vorhinein stellt er klar, dass es sich um eine „Meditation“ über Europa handelt. Und die ist sehr interessant geschrieben. Oft zieht er die Geschichte als Argumentationsgrundlage heran, so vergleicht er beispielsweise die EU mit der Habsburger Monarchie und hält es nicht für abwegig, dass der EU ein ähnliches Schicksal bevorsteht. Das Vertrauen in den einst gefeierten „european way of life“ habe abgenommen, während skeptische Stimmen zusehends zunehmen. Krastevs Ausgangspunkt ist, dass die sogenannte „Flüchtlingskrise“ Auslöser für das Sichtbarwerden eines schon lange gespalteten Europas ist.

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Der Brexit, der Zuwachs des Zuspruches für Rechtspopulismus – diese Phänomene wurden vor allem durch die Migrationswelle begünstigt, so Krastev. Den größten Zuspruch fänden rechtspopulistische und rechtsradikale Bewegungen in mittel- und osteuropäischen Ländern. Verwunderlich sei dies nicht. In Osteuropa herrsche eine ausgeprägte Angst vor Geflüchteten, die der Autor darin begründet sieht, dass diese postkommunistischen Staaten noch sehr jung sind, gerade erst die Gründungsphase überwunden haben und die in den letzten Jahrzehnten zudem kaum Erfahrung mit Migranten hatten. Zur Untermauerung zitiert er beispielsweise den polinischen Politiker Jaroslaw Kaczyński der nationalkonservativen PiS-Partei, welcher gewarnt habe, die Aufnahme von Flüchtlingen gefährde die öffentliche Gesundheit, da diese unbekannte Krankheiten einschleppen könnten. Krastev macht darauf aufmerksam, dass viele osteuropäische Staaten ethnisch nahezu homogen sind, was die Angst vor dem Fremden bestärkt, denn die Angst vor Fremden sei immer dort am stärksten, wo es kaum Fremde gibt. Eine seiner Grundthesen ist, dass die Ost-West-Spaltung nicht überwunden wurde, sondern im Gegenteil, durch die Migration wieder verschärft wird. Die neuen EU-Staaten agierten seit ihrer Zugehörigkeit zur Union bilateral: Zum einen akzeptierten sie europäische Normen und Gesetze, gleichzeitig legitimierten sie sich nach innen durch Nationalismen. Durch die offenen Grenzen durch den EU-Beitritt habe sich die Armut in den osteuropäischen Staaten verschärft, infolgedessen gab es eine Welle der Renationalisierung, die durch die Migrationskrise erstarkt ist. Krastev spricht von einer „Welt der neuen Zäune“, in der Ressentiments gegen Fremde und die Forderung nach Sicherheit vorherrschend sind. Er schreibt: „Die Flüchtlingskrise ist von entscheidender Bedeutung für die Überlebenschancen der Europäischen Union, weil sie nationale Solidaritätsgefühle stärkt und zugleich die Chancen für eine Art Verfassungspatriotismus innerhalb der Gesamtunion schwinden lässt.“ Doch für welche EU lohnt es sich noch zu kämpfen? Für eine Institution, die den Neoliberalismus, wie Krastev ja selbst andeutet, gefördert hat und die daher mitverantwortlich für die Entstehung von Nationalismen ist? Andererseits sagt der Politologe, dass der Zerfall der EU eine Tragödie wäre, der den Kontinent in die internationale Bedeutungslosigkeit verdammen würde. Dem sei hinzugefügt, dass die EU als Friedensprojekt gegründet wurde, ein Aspekt, der bei Krastev leider kaum angesprochen wird. Das Friedensprojekt hat sich jedoch mittlerweile in ein unsoziales Wirtschaftsprojekt verwandelt. Krastev schreibt, dass das europäische Projekt in einem Dilemma zwischen Globalisierung mit freiem Handel und nationaler Souveränität steht. Nur marginal angedeutet wird, dass es auch der freie Handel ist, der die Schere zwischen Arm und Reich vergrößert hat und Rechtspopulismus die Türen öffnete. Edward Luttwak wird zitiert, der bereits 1994 gewarnt habe, dass die Ausbreitung des globalen Kapitalismus zu einer Wiederkehr des Faschismus führen könnte und der sagte, dass man nicht wissen brauche, wie „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ buchstabiert werden, um die faschistischen Neigungen zu erkennen, die der Turbokapitalismus hervor brächte.

Der Autor macht auch einen europäischen Widerspruch sichtbar, in dem er fragt, „wie sich unsere universellen Rechte mit der Tatsache vereinbaren lassen, dass wir sie als Bürger ungleich freier und wohlhabender Gesellschaften genießen“. Denn unser Lebenseinkommen ließe sich vor allen Dingen durch den Geburtsort nachvollziehen, er spricht von einer europäischen „Geburtsrechtlotterie“. Die Deutschen sagt er, würden die Entwertung ihres Passes genauso fürchten wie eine Inflation.

„Anstand und Toleranz“ seien lange Zeit die bestimmenden Merkmale der Union gewesen, heute würden diese jedoch von Populisten als auch Liberalen bekämpft. Zunehmend fühlte sich die europäische Bevölkerung von Brüssel im Stich gelassen, da sie kaum Vertrauen in meritokratische Eliten habe. Stattdessen suche sie die Befriedigung ihres Sicherheitsbedürfnisses bei den Populisten. Es heißt: „Die neuen populistischen Mehrheiten sehen in den Wahlen nicht die Chance, zwischen verschiedenen Politikoptionen zu wählen, sondern eine Revolte gegen privilegierte Minderheiten – im Fall Europas gegen die Eliten und ein entscheidendes kollektives 'Anderes', die Migranten.“ Einer der zentralsten europäischen Werte, die Demokratie, hat heutzutage einen merkwürdigen Charakter angenommen: „Es ist schockierend, mitanzusehen, wie liberale, tolerante westliche Gesellschaften in die schlimmste Art von Identitätspolitik abdriften“, schreibt Krastev. Im Zeitalter der Migration habe die Demokratie begonnen als Instrument des Ausschlusses anstelle der Inklusion zu fungieren. Er konstatiert auch, dass die europäische Linke längst ihren Bezug zur Arbeiterklasse verloren hat und das Feld dem rechten Populismus überlassen hat.

Ein Alternativvorschlag zur EU-Politik wird in dem Essay nicht angeboten, der Meditation hätte das aber sicher gut getan – trotz allem ist es eine wirklich lesenswerte Analyse. Parallel zum Erscheinen seines Essays, erlangte die „Pulse of Europe“-Bewegung zunehmend an Bedeutung. In mehreren europäischen Städten, vor allem aber deutschen, stellten und stellen sich Europafreunde Sonntag für Sonntag als Gegenentwurf zum zunehmenden Populismus auf die Straße. Sie halten blaue Ballons mit gelben Sternen in den Händen oder haben sich die EU-Flagge direkt ins Gesicht geschminkt. Ihnen geht es vor allem darum, die europäische Idee wieder in den Mittelpunkt zu rücken Es ist ein Ansatz, in dem Bürger ihre Europa-Solidarität ausdrücken können. Kritiker werfen der Bewegung jedoch vor, dass sie zwar Solidarität zu Europa ausdrücke, jedoch kaum Kritik an ökonomischen Misständen der EU üben – genauso wenig, wie Krastev Gegenentwürfe zur aktuellen europäischen Politik bietet.

Ivan Krastev: Europadämmerung. Ein Essay. Suhrkamp Berlin, Berlin 2017

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