Späte Rebellion

Kein Rezept für den Osten Thüringer SPD fordert Abkehr vom Hartz-Konzept

Im Freistaat könnte es zu einer mittleren Katastrophe kommen, prophezeit Alfred Müller, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Thüringer Landtag. Besonders betroffen sind die Problemgruppen des Arbeitsmarktes, weil Angebote, die oft die einzige Chance zur beruflichen Integration darstellen, zunehmend ohne Ersatz entfallen. Die massiven Mittelkürzungen bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik - allein in Thüringen fehlen 240 Millionen Euro Bundesmittel und 47 Millionen Landesmittel gegenüber dem Vorjahr - haben jetzt die SPD-Genossen aus der Reserve gelockt. Es ist nicht mehr zu übersehen: Die radikalen Kürzungen, kombiniert mit Hartz-Gesetzen, machen den öffentlich geförderten Arbeitsmarkt kaputt.

Wie sollte Beschäftigungspolitik in den neuen Ländern künftig gestaltet werden? Die Thüringer SPD hat nun ihre Vorstellungen konkretisiert: Sie fordert vom Bund eine Arbeitsmarktpauschale, die in ihrer Höhe den Kürzungen entspricht und über deren Verwendung, im Unterschied zur bisherigen Praxis, vor Ort in den Kommunen entschieden werden soll. Städte, Gemeinden und Landkreise könnten dann in eigener Regie beschließen, welche Jugend-, Kultur- und Sporteinrichtungen einbezogen werden sollen und welcher Qualifizierungsbedarf tatsächlich besteht. Zur Koordination könnten die Regionalbeiräte für Arbeitsmarktpolitik eingesetzt werden, die in den vier Planungsregionen Thüringens bereits seit Jahren existieren, aber bislang kaum eigene Kompetenzen hatten.

Mit ihrer Initiative wollen die Thüringer Sozialdemokraten vor allem dazu beitragen, dass auch diejenigen, die keinen Anspruch auf Leistungen des Arbeitsamts haben, wieder Chancen bekommen. Gerade diese Gruppe fällt im Zuge der Hartz-Gesetze immer mehr aus den Maßnahmen heraus, die von der Nürnberger Bundesanstalt finanziert werden. Für Birgit Pelke, stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende, ist das nicht zu akzeptieren: »Ich habe das Gefühl, dass die Schwächsten an den Rand der Gesellschaft geschoben werden. Der öffentlich finanzierte Arbeitsmarkt wird gerade für sie ein notwendiges Instrument bleiben. Wenn man ein Feuer löschen muss, dann fragt man in dieser Situation auch nicht nach dem Wasserpreis.«

Jede Einsparung stößt einmal an ihre Grenzen. In Thüringen wurden in den Jahren 2000 bis 2002 insgesamt 48.800 arbeitsmarktpolitische Maßnahmen weniger initiiert als in den drei Jahren zuvor - Projekte, die ein Viertel aller Thüringer Arbeitslosen, wenn auch befristet, in Lohn und Brot brachten. Man rechnet bald mit einer Entscheidung der Bundesanstalt für Arbeit, dass kaum noch freiwillige Leistungen, wie Arbeitsbeschaffungs-, Strukturanpassungs- und Weiterbildungsmaßnahmen genehmigt werden.

Nicht nur die Schrumpfung des zweiten Arbeitsmarkts, sondern auch die neuen Bedingungen für Weiterbildung sind für Thüringen und andere ostdeutsche Bundesländer verheerend. Bildungsträger müssen neuerdings nachweisen, dass mindestens 70 Prozent der Kursteilnehmer anschließend in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden, sonst findet keine Weiterbildung mehr statt. Die Zweifel mehren sich, ob die Initiatoren des Hartz-Konzeptes auch nur annähernd wissen, wie es um den Arbeitsmarkt im Osten bestellt ist. Wer eine Vermittlungsquote von mindestens 70 Prozent festlegt, setzt voraus, dass Arbeitsplätze in hinreichender Zahl auf dem ersten Arbeitsmarkt tatsächlich existieren - angesichts der Realität in Ostdeutschland eine absurde Annahme.

Trotz einer seit fast einem Jahr anhaltenden Diskussion über die Hartz-Kommission war von den östlichen Sozialdemokraten bisher wenig zu hören. Ob die Thüringer SPD jetzt noch irgendetwas erreichen kann, ist mehr als zweifelhaft. Trotzdem hofft Birgit Pelke, »dass sich die Kollegen auf der Berliner Ebene auch wieder mit den Realitäten beschäftigen werden.«

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