Auf den Moskauer Lenin-Bergen gibt es diese herrlichen russischen Parkbänke, die so niedrig sind, dass auch Frauen die Chance haben, ihre Beine rechtwinklig aufzustellen. Links von mir erhebt sich das 1953 errichtete 240 Meter hohe Hauptgebäude der Lomonossow-Universität (MGU), rechts deren 2005 aus Marmor und Granit erbaute Bibliothek. Dorthin wollte ich gerade, erfuhr aber, die Bibliothek „arbeite“, wie man hier sagt, erst ab elf. Ein seltener Moment der Ruhe und des Nachdenkens darüber, was mir in dieser gigantisch-grandiosen, atemberaubenden Stadt so alles schon widerfahren ist.
Vor 30 Jahren war ich hier als Doktorandin am Lateinamerika-Institut der Akademie der Wissenschaften. In der ersten Hälfte der 80er lagen bleierne Jahre der Stagnation über dem Land. Die Perestroika ließ sich nicht vorausahnen, geschweige denn das, was danach noch kommen sollte. Nach fünf Jahren Studium in Leningrad („eine fremde Stadt hieß damals noch Leningrad, und das Meer hieß einfach Meer“, singt der unvergleichliche Hans-Eckardt Wenzel) hatte ich schon etwas „Russland im Blut“. Bis heute blieb dieses Land ein wichtiger Teil meines Fühlens und Denkens. Wissenschaftlich mit ihm beschäftigt habe ich mich freilich nie.
Olympische Geher
Drei Jahrzehnte später bin ich über die Ostpartnerschaft des Akademischen Austauschdienstes DAAD nach Moskau zurückgekehrt, nunmehr als Leipziger Professorin für Internationale Beziehungen, um Vorlesungen an der Moskauer Universität zu halten. Zwischen beiden Aufenthalten herrscht die absolute Leere, es fehlen Eindrücke der Gorbatschow-Zeit, des Umbruchs danach, der Jelzin- und Putin-Jahre. Ist das nachgerade ideal für den unvoreingenommenen Vergleich, weil keinerlei Zwischenerfahrung diffundieren kann?
Sicher hat sich mein Blick genauso gewandelt wie die Perspektive meiner russischen Gastgeber, einst treue, wenn auch nicht unkritische Bürger der sozialistischen Sowjetunion, heute angekommen in einer wilden Marktwirtschaft irgendwo zwischen russisch-orthodoxem Glauben, esoterischen Fiktionen, einem ordnungsschaffenden Putin und ja, noch immer, dem etwas sehnsüchtigen Blick nach Westen. Und Moskau selbst, wo erkenne ich Altes, Überkommenes? Und wo ist diese Stadt sogar westlichen Standards längst davongeeilt?
In der Aula der MGU prangen an der Stirnseite weiter das sowjetische Wappen und die roten Banner mit Hammer und Sichel. Unter dem Uni-Komplex soll es Gänge geben, die bis ins Stadtzentrum reichen und sogar von Lastkraftwagen befahrbar sind. Noch immer stehen an jeder Verbindungstür im Hauptgebäude der Universität die Dokumente kontrollierenden Wachmänner. Propusk (Erlaubnis) und Prikaz (Anweisung) sind nach wie vor die Zauberwörter. Man braucht beides selbst dann, wenn man abreisen will. In meinem Wohnheimzimmer der MGU hat möglicherweise schon mein Vater in den 50er Jahren gewohnt. Vielleicht saß er am gleichen Tisch. Meine Großmutter hatte einst ähnliche Möbel. Nur bei den Kakerlaken handelt es sich wohl längst um eine jüngere Generation. Ich habe sie immer, seit der Sowjetunion, geliebt, seit ich Wanzen und deren Bisse kenne. Elektroleitungen sind auch heute noch über Putz verlegt und nicht immer durch eine Abdeckung geschützt. Aber das WLAN funktioniert ohne Probleme, und statt des alten Tschainiks (Teekessel) hat man mir einen modernen Wasserkocher hingestellt. Dem aus Deckenstuck herauswachsenden dreigliedrigen Leuchter fehlen zwei Glühbirnen. Ich habe einen Röhrenfernseher im Zimmer, welch ein Luxus! Er zeigt ununterbrochen kinó – vor 30 Jahren war das ein solches Ereignis, dass die ganze Familie zusammengerufen wurde, egal ob sowjetischer Kriegsfilm oder amerikanische Komödie. Beim Umschalten zwischen den Programmen stoße ich auf mir aus dem deutschen Privatfernsehen bekannte Formate: Golos etwa („Die Stimme“), Pendant zu The Voice of Germany. Nur dass hier von den kleinen Jungen Volkslieder geschmettert werden, kein Rap. Der Fernseh-Wetterfrosch beglückt nicht nur mit Regenprognosen, sondern auch mit der Reklame für deutsche Medikamente. Und die empfohlenen Waschmaschinen sollen auch auf Russisch „länger leben“.
Die Studenten, die im Tempo olympischer Geher zwischen den Sektoren des Gebäudes hin und her eilen, hören und sehen nichts. Sie haben, anders als früher, Kopfhörer auf und starren auf ihr iPhone, ganz so wie die Altersgenossen im Westen. Nur ihre Jeans sind noch stärker zerfranst als anderswo. Neben Chinesen scheinen es im wesentlichen Weißrussen und Armenier zu sein, die heute an der MGU das Ausland repräsentieren. Vor 30 Jahren waren sie noch Inland. Erinnere ich mich richtig, dass einst die Pässe bunter waren? Und dann habe ich nicht aufgepasst, um maßgerecht durch die rasant rotierende Tür am Ausgang zu kommen. Der Wachmann, dessen Vater als sowjetischer Offizier in Meißen gedient hat, wie ich später erfahren werde, wirft mir auf Deutsch ein fröhliches „Guten Tag“ hinterher.
Einkauf im „Aschan“
Die Innenstadt Moskaus, aber auch seine neuen Randbezirke mit hochgeschossigen, nachts vielfarbig erleuchteten Wohnhäusern sind nicht wiederzuerkennen. Moskau, nunmehr an vielen Stellen Dubai ähnlich, erschlägt zunächst, um schon nach wenigen Tagen wieder jene Geborgenheit – ja, Geborgenheit! – zu vermitteln wie vor 30 Jahren auch. Man kann noch immer gut mitschwimmen in diesem Strom der inzwischen 17 Millionen Bewohner. In der Metro findet man den way out ausländergerecht auf Englisch. Die Linien selbst haben auf der Karte noch immer dieselbe Farbe: Meine ist rot. Vor 30 Jahren fuhr ich mit der orangefarbenen. Auch die gibt es noch. Etliche neue Stationen nimmt man als Geschenk gern entgegen. Durch manchen Zug lässt sich inzwischen durchlaufen vom ersten bis zum letzten Waggon. Plakate werben für den Gebrauch des Fahrrades, doch graut mir bei der Vorstellung, dass ein Radfahrer auf den von „Benzin-Katapulten“ kamikazemäßig befahrenen Stadtprospekten den Wunsch haben könnte, nach links abzubiegen. Mit der Metro kommt man hingegen immer an, es sei denn, der Fahrgast klemmt sich, wie manche Jugendliche, von außen an den Zug und unterschätzt den Abstand zur Tunnelwand.
Ist man in Deutschland noch viel zu jung, um junge Männer zum mitleidigen Aufstehen zu ermuntern, ist es in Moskaus Metro selbstverständlich, dass sie sich für Frauen reiferen Alters, wie ich es in ihren Augen bin, erheben. Verzichten sie darauf, kann es passieren, dass ein Passagier dies lautstark verlangt. Armer junger Mann, er hat wohl gerade via Facebook Nachrichten bekommen, die er sitzend besser hätte genießen können.
Anders als früher halten jetzt auch die Autos am Zebrastreifen, und in den Bussen vermisst man das einstige Ringen um Leben oder Tod im atemberaubenden Gedränge. Heute steigt man ganz ruhig beim Fahrer ein, während der elektronische Fahrkartencheck den Strom der Passagiere reguliert. Das einst menschenverbindende „peredaite, paschalusta“ (bitte weitergeben), mit dem zu sowjetischen Zeiten über viele Fahrgasthände hinweg das Fahrgeld zur Fahrscheinbox und der Fahrschein zurück zum Absender des Geldes geleitet wurden (irgendwie kam immer alles an!), ist verstummt. Schnapsleichen im Bus sind von der allenthalben präsenten Miliz schnell entfernt, auch der Knoblauchgeruch, an dem man einst mit geschlossenen Augen erkennen konnte, dass man nicht in Deutschland war, hat sich aufgelöst in westlichen Düften oder im Nichts. Gewiss, wohnt man, wie ich derzeit, im Südwesten der Stadt und will eine Freundin treffen, die dafür die Elektritschka (S-Bahn) vom nordöstlichen Rand nehmen muss, dann sollten beide Seiten jeweils zwei Stunden Weg und mehrfaches Umsteigen einplanen. Da muss man die Freundin schon sehr mögen und umgekehrt, um das auf sich zu nehmen. Denn hier scheint die Zeit (noch) kürzer zu sein als im Westen, auch wenn das Kulturphilosophen sicher umgekehrt sehen.
Zu Sowjetzeiten verabredete man sich zur vollen Stunde. War der oder die andere noch nicht da, kam man zu jeder vollen Stunde wieder an den gleichen Ort, irgendwann klappte es. Nicht immer fiel und fällt die Rückfahrt auf den gleichen Tag. In Moskau wird man in der Regel eingeladen, über Nacht zu bleiben, am berühmten Küchentisch bis spät Tee zu trinken und unendlich über Gott (dies mehr als früher) und die Welt zu reden. Und ja, im Unterschied zu verflossenen Zeiten ist dieser Tisch reichlich gedeckt. Was dazu gebraucht wird, gibt es im O’kei oder Aschan, schon längst keine Supermarkets mehr (die hier früher Universam hießen), sondern Gipermarkets, manche so groß wie der Berliner Hauptbahnhof. Das heißt, die Auswahl war und ist grauenvoll: War sie es früher, weil es eben nichts zum Auswählen gab, ist sie es jetzt, weil man an der Fülle schier verzweifelt. Gott sei Dank stehen überall Bänke im Kauftempel, auf denen müde Kunden ausruhen.
Beheizte Holzwege
Moskaus Straßen in der Innenstadt sind prachtvoll und sauber. Es leben die zentralasiatischen Gastarbeiter, besonders aus Kirgistan und Usbekistan! Ihre miserablen Löhne und Arbeitsbedingungen seien hier ausdrücklich nicht gepriesen. Nein, ich habe da nichts übersetzt, gastarbéiter ist eines der vielen neuen Lehnwörter im Russischen. Mit seinem rjuksák steht der gastarbéiter, oft in zeitnot, am schlagbáum in fremder landscháft. Das ist fast in Gänze ein russischsprachiger Satz.
Manche Gasse oder Passage ist zum Boulevard aufgestiegen. Die Raiffeisenbank grüßt mit kyrillischen Lettern, die russischen Geldhäuser haben in die vorrevolutionäre Zeit zurückgefunden und sich für das Hartheitszeichen in ihrer Bezeichnung (Банкъ) entschieden. Der Umgang mit der sowjetischen Vergangenheit, mithin die Erinnerungskultur, ist spürbar entspannter als mit der sozialistischen auf dem Terrain der früheren DDR. Zwar sind auch in Moskau manche Denkmäler abgeräumt, aber nicht vollends verschwunden. An der Ljubjanka, wo einst Felix Edmundowitsch Dserschinski über die Geheimdienste NKWD, KGB und das Land sowieso wachte, trennt die Straßen jetzt ein eigenartig leer wirkendes Rondell. Nunmehr steht Dserschinski in der Gesellschaft vieler Lenin-Figuren, samt Stalin mit abgebrochener Nase, aber auch neben sehr beeindruckenden Skulpturen auf einem weitläufigen Areal nicht weit vom Gorki-Park. Geplant sei dort sogar – so hörte ich –, die Holzwege zu beheizen.
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Teil 2 in der nächsten Ausgabe
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