Wandeln zwischen Welten

Russland Eine Wiederbegegnung mit Moskau nach 30 Jahren kann identitätsstiftend sein – Teil 2
Ausgabe 31/2016

Der teils prächtige Schmuck auf Moskaus Straßen wirkt ungewöhnlich für meine sowjetisch „sozialisierten“ Augen, von den gut gefüllten Kirchen (wo waren die eigentlich alle früher?) ganz zu schweigen. Die Christ-Erlöser-Kathedrale jedoch ist neu erbaut worden. Sie steht dort, wo Josef Stalin einst den „Palast der Sowjets“ mit einer Höhe von 415 Metern errichten wollte. Später wurde die Baugrube zum Schwimmbad umfunktioniert. Verglichen mit Stalins Architektur-Plan nimmt sich die Kirche mit ihren gut hundert Metern Höhe eher winzig aus. Wahrscheinlich hat Sponsor Gazprom schon Ende der 1990er, als gebaut wurde, das Sinken des Erdgaspreises antizipiert. Die Kathedrale verlassend, genieße ich den Blick von der Patriarchenbrücke auf den prächtig erleuchteten Kreml. Warum in meiner Abwesenheit gerade hier ein Monument für Peter I. aufgestellt wurde, das ihn am Steuerrad eines riesigen Metallschiffes zeigt (nicht in St. Petersburg, wo er ja hingehören würde), bleibt unklar.

Teil 1 der Rückkehr nach Russland verpasst? Hier entlang.

Als einstige Mensa-Gängerin weiß ich dem heutigen Angebot von Bistros und Lokalen ausländischer Ketten etwas abzugewinnen. Gleichwohl bevorzuge ich das Mu-Mu, wo original russische Speisen zu vernünftigen Preisen angeboten werden. Meine russischen und usbekischen Freunde aber streiken und bringen zu jedem Spaziergang Tee in der Thermoskanne und eine Lepjoschka (usbekisches Brot) mit. Ihr Restaurant soll die Parkbank sein, auf der ich außer Gastronomie-Verzicht die Relativität des Autoritarismus kennenlerne. Mag für uns das Putin’sche Russland ohne große demokratische Standards sein, ist es für Usbeken, gemessen an ihrer Heimat, nachgerade ein Ausbund an Demokratie und sozialer Fürsorge.

Putin-Shirts

Auch wenn es uns im Westen nicht gefällt – die Unterstützung Putins durch die Bevölkerung ist groß. Zwar kauft in Moskau niemand außer seltsamen westlichen Ausländern T-Shirts mit dem Konterfei des Präsidenten, aber immer wieder höre ich: Zumindest in Moskau leben wir gut, kein Vergleich zur Misere nach 1991. In das Chaos seien wieder Ordnung und Sozialpolitik eingezogen. Auf direktem Wege könne man Putin sogar über das Fernsehen auffordern, etwas gegen Missstände zu tun, undenkbar bei Breschnew, Andropow oder Tschernenko zu Sowjetzeiten. Arbeiter auf Sachalin, die monatelang keinen Lohn bekamen, so die Insel nicht verlassen konnten und faktisch zu Sklaven geworden waren, haben nach ihrer Klage bei Putin immerhin einen Vorschuss erhalten.

Die Frustration, dass ihr Land nach dem Zerfall der Sowjetunion politische Größe im Zeitraffer verloren hat, kratzt unendlich am Selbstbewusstsein vieler Russen, auch an dem meiner Freunde. Sich dem Westen unterzuordnen, besonders wenn es sich um dessen Wertekanon handelt, wird als Demütigung empfunden. Nach dem Ende der Sowjetunion hat es oft Annäherungsversuche – auch an die NATO – gegeben, nur blieben sie erfolglos. Längst wird nach Alternativen gesucht – China, Iran, einige Staaten Lateinamerikas kommen in Betracht. Mit den im globalen Osten wie Süden erwartungsfroh bereitstehenden fellows in the misery werden neue Partnerschaften erwogen. Das ist eine Alternative, die andere besteht im Rückzug in die eigene Nationalgeschichte, in ihre heroischen wie provinziellen Momente, in tatsächliche oder vermeintliche kulturelle Tugenden.

Nachdem mir die Studenten im Soziologieseminar der Lomonossow-Universität mit Verweis auf die amerikanische Modernisierungstheorie erläutert haben, dass es in jeder Nation – nicht nur in Russland – eine unverrückbare nationale Kultur gebe und Vertreter anderer Kulturen diese niemals verstehen könnten, lautet meine Frage, ob ich als Westlerin, die ich ja „von Natur aus“ sei, überhaupt eine Chance habe, Russland zu begreifen. Nein, sagt eine Studentin, die hätte ich nicht und solle mich in der Forschung daher mit meinem Heimatland bescheiden. Das sei schwierig für jemanden, der Internationale Beziehungen lehrt, entgegne ich. Die Studentin schaut irritiert auf.

Nach dem Seminar, am Runden Tisch zur Soziologie der Internationalen Beziehungen, zu dem Moskauer Granden des Fachs geladen sind, werden sich alle schnell einig, dass es das Westfälische Staatensystem, wie es nach dem Dreißigjährigen Krieg entstanden sei, nicht mehr gebe. „Westfalen 2“ stehe auf der Tagesordnung, wenn nicht allein Staaten, sondern auch nichtstaatliche Akteure relevant würden, dazu demokratische Normen und Verfahren. Habe ich richtig gehört? War das westlicher Liberalismus, vorgetragen von der Professorin eines Moskauer Elite-Instituts?

Ob sie das wirklich glaube, schmettert daraufhin ein älterer Kollege in die Runde. Gut, die internationalen Beziehungen fänden nicht mehr nur zwischen Staaten statt, doch erst recht nicht innerhalb irgendwelcher liberaler Regime, sondern zwischen einander konträr gegenüberstehenden kulturell-religiösen Zivilisationen. Die würden bald die neuen Staaten sein. Er verweist auf Samuel Huntingtons Clash of Civilizations. Ausgerechnet Huntington, der mit seiner Zivilisationstheorie US-Interessen unter anderem gegen Asiens Wirtschaftswachstum verteidigt hat, soll es sein, der hier in Russland zum Theorie-Big-Shot mutiert? Jemand unterbricht die Debatte und schreit schrill: Wir sollten endlich begreifen, der Kalte Krieg mit dem Westen sei längst wieder da, viel gefährlicher als zuvor. Nun sei nicht mehr Berlin die Frontstadt zwischen Ost und West, sondern Moskau. Es sei Zeit, sich auf den heißen Krieg vorzubereiten.

Ich erschrecke, ganz Westlerin, und fühle quasi die Waffe schon auf mich gerichtet, um mich dann, als Ostlerin, zu erinnern, dass ich noch vor 30 Jahren dem sofort zugestimmt hätte. Ich bin über mich selbst irritiert. Ob die Russen am Tisch genauso irritiert sind, wenigstens die Liberalen? Was sie vor 30 Jahren gedacht haben, bleibt ihr Geheimnis. Ich versuche, mich ein wenig lieb Kind zu machen und bemerke leise, dass im Vergleich zu Donald Trump Wladimir Putin doch wohl das kleinere Übel sei. Ich ernte Hohn von allen Seiten: Die Liberalen finden Trump großartig. Und der Kalte Krieger meint, um Trump gehe es doch gar nicht, schon mit Bill Clinton habe die Misere für Russland begonnen. Dann verlässt er den Raum, ohne mich eines Blickes zu würdigen.

Am Ende bleiben mir alle Positionen am Runden Tisch fremd, wenn auch einige mehr als andere. Meine Freunde, denen ich abends davon berichte, sagen mir, dass ihnen die westlichen Sanktionen wegen des Ukraine-Konflikts eher gleichgültig seien. Ich höre heraus, dass sie die USA als Gegner betrachten, während Deutschland noch immer, dies ganz ohne Ironie, vor allem als Partner gesehen wird.

Wodka mit Meerrettich

Außenminister Lawrow, so hieß es gegen Ende unseres Runden Tisches, habe jüngst gemeint, die Tendenz, sich dem Westen gegenüber „negativ zu verhalten“, solle überdacht werden. Das sei richtig, so ein Kollege vom Lateinamerika-Institut der Akademie der Wissenschaften, eine festgezurrte außenpolitische Strategie Russlands gebe es noch gar nicht – alles sei offen!

Noch können wir – Deutsche und Russen – einander zurückholen. Russland hat schon immer, wenn auch mit unterschiedlichen Prioritäten, nach Osten und Westen geschaut. Am Ende erwies sich immer die Balance als hilfreich. Dass der nunmehrige Drang nach Osten, der pivot to Asia, besonders nach China, kein Irrweg ist, aber ambivalent, das hat man in Moskau sehr wohl verstanden. Schnellschuss-Statements, Klischees, Policy Papers ohne Konsultation originalsprachiger Quellen der jeweils anderen Seite, dies allerdings ist – ob in Russland oder im Westen – kaum ein zukunftsweisender Weg. Zwischen Liberalismus, den die westlichen Internationalen Beziehungen favorisieren, und dem Neorealismus, wie er der Putin’schen (und durchaus auch mancher westlicher) Denkweise eigen ist, gibt es Brücken. Es hilft wenig, stur das Eine dem anderen entgegenzustellen. Wie könnte zwischen beiden Polen das gelingen, was die Psychoanalyse als Triangulierung beschreibt: die Hinzuziehung eines Dritten zu einer Zweierbeziehung, die dadurch gesundet? Könnte es der Sozialkonstruktivismus sein, der das Dilemma zwischen westlichem Liberalismus und östlichem Neorealismus überwindet, weil er stets die Ideen eines jeden Akteurs ernst nimmt? Fest steht, westliche Beobachter können, selbst wenn sie sich in das russische Denken hineinversetzen wollen, der eigenen wissenschaftlichen Sozialisation nicht entfliehen. Dem russischen Gegenüber geht es genauso. Verständnis füreinander und Dialog muss das nicht ausschließen. Nicht nur die deutsche Wirtschaft, die sich von Russlands Markt nicht abkoppeln kann und auch nicht will, sieht das so. Längst gibt es „gegen den Strom“ gerichtete Initiativen, wie etwa das Younger Generation Leaders Network on Euro-Atlantic Security oder die Förderung trilateraler Partnerschaften, ein Kooperationsprojekt zwischen Wissenschaftlern aus der Ukraine, Russland und Deutschland, hinter dem eine deutsche Stiftung steht. Auch „mein“ Dekan hier in Moskau ist sich sicher: Wir haben gemeinsam noch viel vor. Zum Abschied reiche ich ihm die Hand. Dabei weiß ich doch, dass man als Frau hier so etwas nicht tut, sondern nur Männer unter sich.

Wer also bin ich nach meinem Aufenthalt in Moskau vor 30 Jahren? In mir finden sich viele alte und neue Identitäten, die sich zur Hybridität überlagern, ja mehr noch: zu vielen Hybriditäten. Zerfasert meine Identität genauso wie das Westfälische Staatensystem? Das ist eine mögliche Deutung, eine positivere lautet: In den 30 Jahren ohne Moskau bin ich ein translokales, hoffentlich kosmopolitisches Wesen geworden oder geblieben, auf eigene Wurzeln, im Westen wie im Osten, angewiesen. Den Hintergrund bilden das noch vorhandene sowjetische Wappen an der Vorderseite der Moskauer Universität und die Leipziger Universitätskirche, der das Marx-Relief weichen musste.

Diese hybride, aber dennoch „integrierte“ Person ist jetzt erst einmal froh, noch einmal zurückkehren zu können an den russischen Küchentisch. Mögen meine Freunde Putin huldigen, und möge ich weiter versuchen – ganz ohne Huldigung –, ihn, Russland und sie zu begreifen. Wir, die Freunde und ich, die wir uns nun schon über Jahrzehnte immer wieder zwischen den Welten treffen, werden davon auch in Zukunft nicht lassen.

Morgen fahre ich zurück nach Deutschland. Der Wasserhahn in meiner Wohnheimdusche spuckt zum Abschied keuchend bräunliche Brühe. Von meinem Fenster aus sehe ich, wie Moskau auch tagsüber beleuchtet wird von der einen Sonne. Ein Freund reicht mir Wodka mit Meerrettich. Na proschtschanie (zum Abschied) setzen wir uns für einen Augenblick, um zu schweigen. Schon habe ich Heimweh – nach Moskau.

Heidrun Zinecker ist Professorin für Internationale Beziehungen am Leipziger Institut für Politikwissenschaft. Sie studierte in den 80ern an der Philosophischen Fakultät der Uni Leningrad und in Moskau

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