In Hamburg-Altona in der Keplerstraße lehnt an einer Straßenlaterne ein Fahrrad. Oder besser gesagt: Es lungert dort herum. In Wirklichkeit ist es auch kein richtiges Fahrrad mehr, ihm fehlen nämlich die Räder und der Rost knabbert eifrig am Gestell. Dieses Fahrrad muss einmal jemand, man kann es so sagen, sehr lieb gehabt haben. Zum einen ist, was von ihm übrig blieb, noch immer an der Laterne angeschlossen. Zum anderen erkennt auch der ungeschulteste Blick die reizende, fast künstlerische Gestaltung seines Schutzblechs. Durch den hässlichen Rost schimmert wie durch dunkle Wolken ein Himmelblau, auf dem wie von Kinderhand zwischen kleinen grünen Blättern rote und gelbe Blumen gemalt sind. Vom einstigen Leben des Rades lässt sich also noch viel erahnen.
Eine Zeit lang wohnte ich in der Keplerstraße und wartete vormittags an der Ecke Große Brunnenstraße auf den Bus Richtung Innenstadt. Die Haltestelle ist von der Laterne mit dem besagten Fahrrad nur wenige Meter entfernt, und jedes Mal, ob ich nun wollte oder nicht, war ich von diesem verlassenen Drahtesel wie elektrisiert. Stand ich am Bushäuschen, stellte ich Mutmaßungen über den einstigen Besitzer an.
Es ist, nein, es war einmal ein Herrenrad. Also hatte ich einen etwas in die Jahre gekommenen Studenten vor Augen. Es musste sich mit großer Wahrscheinlichkeit um jemanden handeln, der Biologie studiert, denn nur Biologen pinseln die halbe Botanik auf ihre Schutzbleche, dachte ich mir. Betriebswirte und Mathematiker? Nie. Die fahren ja nicht mal Rad!
Was um alles in der Welt aber ist mit dem armen Kerl geschehen? Vermutlich etwas Schlimmes. Hätte er sonst sein himmelblaues, sommergeblümtes Fahrrad so lieblos zurückgelassen? Hätte er zugelassen, dass ihm von irgendeinem dahergelaufenen, heimtückischen Hanseaten die Räder amputiert werden? Nein!
Gedanken und Ahnungen sind wetterfühlig. Stand ich an dunklen Regentagen an der Haltestelle und schaute auf den Fahrrad-Torso, malte ich mir aus, dass der Eigentümer brutal aber lautlos und natürlich von hinten ermordet worden war; vermutlich von einem Fahrraddieb, der aus der Kälte kam. Aber hätte der Mörder sein Diebesgut zurückgelassen? Und pflichtbewusst angeschlossen? Unter dem Schein einer Laterne? Wahrscheinlicher ist also, dass der Student beim nächtlichen Lernen der Aminosäuren in Altona Durst bekam, sich aufs Fahrrad schwang und zur Kneipe fuhr. Nach dem neunten Bier geriet er, weil der eigentlich in St. Pauli ansässige Nasen-Rolf ausgerechnet heute in Altona aufmischte, in eine üble Schlägerei, die genauso für ihn endete. Und zwar so übel, dass sein Fahrrad verwaiste. Vielleicht liegt dieser arme Mensch nun im Koma, während sein altes, treues, amputiertes Fahrrad noch immer an der Laterne, Ecke Große Brunnenstraße auf ihn wartet ...
Ich fiel aber nicht nur solchen Mordsgedanken zum Opfer. Manchmal erinnerte mich der Anblick des herrenlosen Rades an Hunde, die an Chausseen und Raststätten ausgesetzt werden und, wenn sie Glück haben, im Tierheim landen. Auch Frauen - Zeitungen wissen davon zu berichten - werden hin und wieder an Raststätten vergessen; ein Schelm, wer nicht an Absicht denkt. In der Regel finden sie alleine heim. Wer aber wird sich eines alten, klapprigen, ausgesetzten Fahrrades annehmen?
Wenn der Sturm durch Hamburg brauste, dann sah ich, wie das alte Rad seine Pedale bewegte. Hätte ich mein Ohr an die schlichte Mechanik gelegt, sicherlich hätte ich ein trauriges, flehendes Quietschen vernommen.
Dieses Fahrrad war das Rätsel meiner Straße. Aber die Leute, die mit mir auf den Bus warteten, schienen von ihm keine Notiz zu nehmen. Vielleicht wussten sie als alteingesessene Altonaer Bescheid über das Fahrrad und den Menschen, der einst drauf saß? Vielleicht hüllten sich alle in konspiratives Schweigen, und das Wissen um das schlimme Schicksal eines arglosen, blümeranten Biologiestudenten schweißte diese Altonaer nur noch mehr zusammen?
Der Hamburger Himmel kann blau sein, so blau wie jenes Schutzblech; und das viel öfter als in Berlin. Wenn dann noch die Luft nach Meer duftet und die Möwen gut gelaunt über die Dächer fliegen - dann weiß ich plötzlich, dass hier an der Ecke Große Brunnenstraße einfach nur jemand flugs von seinem Fahrrad sprang und kurzerhand beschloss, sich einzuschiffen, um die große weite Welt kennen zu lernen, die hinter Hamburg anfängt oder einfach nur weitergeht. Vielleicht lag ein verführerischer Zwölfmaster an den Landungsbrücken, und da sprang der Welthungrige hinauf, um anzuheuern oder Korvettenkapitän zu werden oder einfach nur die Steuerbordtreppe zu schrubben. Wer könnte es ihm verübeln, die Räder gegen Segel eingetauscht zu haben und das schwere Treten im dichten Verkehr gegen das Kreuzen auf hoher See!
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