Falkenberg ist eigentlich ein Dorf. Allenfalls franst die Hauptstadt mit ihren Bus- und Straßenbahnendhaltestellen hier noch aus. An die schmale Straße schmiegen sich Gärten mit üppigen Kohlpflanzen. Hier am Hausvaterweg befindet sich Berlins größter Tierfriedhof. Leicht auszumachen ist er nicht in diesem Falkenberg mit seiner Kneipe, die schlicht "Dorfkate" heißt, dem Schulneubau, dem Kindergarten, dem Friseurstübchen. Alles hat an diesem Nachmittag geschlossen. Keine Menschenseele ist zu sehen; nur an dem Bushäuschen wartet eine Kunstblonde auf die Linie 159 und kichert in ihr Handy. Unmöglich, sie in ihren Bemühungen um Anschlüsse nach dem Tierfriedhof zu fragen. Auf einem Bauernhof gibt es die Auskunft von zwei alten Frauen: "Der Tierfriedhof. Ja, ja. Der ist da, wo´s Tierheim ist; immer die Straße weiter geradeaus. Das hören und riechen se dann schon. Riecht ja manchmal bis hier runter, der ganze Hundegestank."
Nach einer Viertelstunde Fußweg baut sich das Tierheim Falkenberg wie eine graue, uneinnehmbare Festung auf. Es ist das größte der Welt. Doch es riecht hier weder nach Hund noch nach Katze, und zu hören ist hier auch nichts. Kein einziger Laut dringt aus dieser zementumklammerten Welt. Die Stille ist fast unheimlich und verleiht dem Riesenobjekt die Atmosphäre eines Krematoriums. Der verschlossene Eingang und das leere Pförtnerhäuschen enttäuschen ein Pärchen, denen es vorerst versagt bleibt, einen Vierbeiner zum Kuscheln und Kraulen adoptieren zu können. Aber sie wissen, wo der Tierfriedhof ist. Aus Erfahrung.
Terrassenförmig sind die Gräber angelegt. Das erkennt man schon von weitem, wenn man den Sandweg zu der kleinen Anhöhe hinaufläuft. Wahrscheinlich hat die Eiszeit vor 10.000 Jahren hier eine kleine Endmoräne aufgeschüttet, um dem zukünftig urbanen Menschen zu zeigen, dass dies ein guter Platz ist, um etwas für immer zurückzulassen.
So wie Frau Etzel ihre beiden Katzen. Sie sitzt in sich zusammengekrümmt mit gefalteten Händen im Rollstuhl vor der ersten Grabterrasse. Wenn sie kann, dann kommt Frau Etzel jede Woche aus Spandau hierher. Der Telebus bringt sie und holt sie nach etwa einer Stunde wieder ab. "Früher als es noch den Tierfriedhof in Lankwitz gab, war es besser", sagt Frau Etzel. "Da standen wenigstens Bäume. Aber hier ist ja kein einziger Baum. Mein erstes Tierchen habe ich noch da beerdigt. Na, und dann wurden ja alle Tiere hierher umgebettet." Sie weist auf eine große Grabtafel am anderen Ende, auf der aller aus Lankwitz stammenden Tiere gedacht wird. Sie haben hier oben in einem Massengrab ihre letzte Ruhe gefunden; Hunde und Katzen friedlich vereint. "Mein liebes Bärchen - Wir vermissen Dich", steht in Kinderschrift auf einem kleinen Zettel, den ein Stein am Wegfliegen hindert. Eine Weile wird Bärchen durch Schrift und Stein noch einzigartig sein, bis ein Regen den Namen zu den anderen hinunter in die Anonymität spült.
Da haben es die anderen bedeutend besser; kein Grab, um das sich nicht gekümmert wird. Man könnte meinen, dass die Hinterbliebenen hier einen stillen Wettkampf um die prächtigste, blühfreudigste, kitschigste Erinnerungsstätte austragen. Auf dem Grab der Hunde Ali und Biene zum Beispiel blüht ein rotes Fleißiges Lieschen die gesamte einen Quadratmeter große Ruhestätte zu, gerade so, als hätte man das Hundegrab nicht mit Erde, sondern mit Guanodünger oder Seramis zugeschüttet. Dafür fällt der Grabstein klein aus. Ganz anders bei Blanche: Die vanillefarbige Rassekatze schaut mittels eines Fotos erhaben von ihrem kniehohen Granitstein ins Nirgendwo. Die Colliedame Pamela tut es ihr nur ein paar Steine weiter nach; 13 Jahre ist sie geworden. "Es tut mir so unendlich Leid, dass ich mich nicht von Dir verabschieden konnte, in Liebe Dein Herrchen", steht auf einer schlichten Holztafel, die die Katze Schnurre Zazza meint. Man ist versucht zu fragen, wo um Gottes Willen Herrchen in der Todesstunde dieses Vierpföters mit dem Künstlernamen war. Das rote Plüschherz mit der Stickerei "Ich liebe Dich" drückt sich wettergegerbt in die Erde und Zazza´s Herrchen ins Gewissen. Alle danken und leiden sie, vergessen nie und lieben posthum ihre Vierbeiner weiter. Und wenn ihnen die Worte fehlen, Robert Louis Stevenson hat die passenden: "Meinst Du, dass Hunde in den Himmel kommen? Ich sage Dir, sie werden schon lange dort sein, bevor auch nur einer von uns dorthin kommt." So ist es auf dem Grabstein der Hündin Ronja zu lesen mit dem misanthropischen Zusatz: Vollkommen an Leib und Seele. Susi war Muttis ganze Liebe, ihr kleiner Liebling und Sonnenschein. Rosys Kraft ging zu Ende, ihre Erlösung ist Gnade und Kater Orpheus für immer in der Unterwelt. Auf der obersten Terrasse am Ende des kleinen Hauptganges zwischen den etwa einhundert Gräbern steht eine offene Tüte mit Hundefutter. "Bello" steht auf der bunten Verpackung. Natürlich ist es auch hinterbliebenen Vierbeinern gestattet, ihre Angehörigen zu besuchen. Hier hinten haben auch die Hunde Amico vom Biesdorfer Grund und Blue Tevko di Cambiano ihre letzte Ruhe gefunden. Die Grabsteine sind schlicht, aber bedarf es noch eines schnöden Zusatzes bei diesen Adelsgeschlechtern? Wie nehmen sich dagegen die Namen Nulpe, Mulle und Assi an? Es gibt eben auch hier domestizierte Unterschiede. Wie aus einer amerikanischen Serie über eine Ölmagnatenfamilie springt einen der Name der Hundedame Channcy Gardner an. Wie bescheiden und diesseits dagegen lesen sich Prinz, Rex, Daisy und der Pudel Silvio. Und erst Morle: Unser kleiner geliebter Hosenscheißer. Inmitten all dieser Rosen-, Nelken- und Stiefmütterchenteppiche mit den bunten Windmühlen und den Kerzen ragt eine sympathische Unscheinbarkeit und Schlichtheit heraus: Im Gedenken an meinen geliebten Mops Willi. Willi wurde nur fünf Jahre alt, und es drängt sich der Verdacht auf, dass Willi durch eine liebevolle cholesterienhaltige Fütterung zu früh den Boden unter seinen vier Pfoten verlor. Wie geht es deinem Herrchen, Willi?
Besucher haben sich mittlerweile eingefunden, Angehörige. Bei Mischling Charlie werden die Blumen ausgewechselt. Das Ehepaar zupft ein bisschen Unkraut, während die Tochter mit der Stechvase zum Wasserhahn eilt. Für Charlie gibt es heute gelbe Astern, und es wird eine Kerze angezündet. Ob Charlie wohl evangelisch oder katholisch war? Unten in Falkenberg läuten die Glocken der Dorfkirche. Reges Treiben auf der anderen Seite des Hauptganges. Eine Mitfünfzigerin macht es sich vor einem Hundegrab mit zwei Männern gemütlich. Wer von den beiden standesgemäß zu der Frau gehört, ist nicht auszumachen. Alle drei haben sich sonntäglich herausgeputzt. In der Art einer Gewohnheit breiten sie eine Zeitung aus, setzen sich vor das Hundegrab, holen Pappbecher aus einer Tasche und gießen sich Kaffee ein. In diesem Moment betritt Lokalprominenz das kleine Paradies. Frank Zander und seine Frau streben wie eingeladen auf das kleine Friedhofspicknick zu. Es ist reiner Zufall, dass Zanders Hund Nachbar des Hundes der Frau mit den zwei Männern ist. Im Windschatten der Prominenz blüht die Mitfünfzigerin auf. In ihr Ringen um Distinguiertheit schwappen Albernheiten. Es ist nicht zu überhören, dass es um Tiere an sich, den Hund im Allgemeinen, seine Krankheiten und sein Dahinscheiden geht. Im Leiden und im Leid gleichen sich vier-, und zweibeinige Kreaturen. Und im Schlaf. "Wenn Tiere gähnen, haben sie ein menschliches Antlitz", sagte Karl Kraus. Tiere verbinden. Einen Kaffeebecher später ist sich das Quartett vertraut, und Vertrauen mobilisiert den Humor. Es wird gelacht in den hinteren Reihen.
"So ist das hier immer", sagt Frau Etzel und deutet mit einer zaghaften Kopfbewegung in Richtung Picknick. "Nie habe ich hier meine Ruhe. Man will doch seiner toten Tierchen gedenken und nicht feiern, oder? Aber die sind so unverschämt laut und rücksichtslos. Neulich ließen sie hier sogar die Sektkorken knallen und aßen Kuchen. Ach, in Lankwitz war alles schöner." Frau Etzel friert und weint ein bisschen und erzählt wie ihr "Kätzchen" nachts manchmal in ihr Bett sprang und sie mit Liebkosungen geweckt hat. Sich ein neues Tier anzuschaffen, das - so sagt Frau Etzel - lohne sich ja nicht mehr. Von Spandau will sie weg, will in den Osten. Pankow oder Weißensee. Dann wäre sie schneller bei ihren Tierchen. Frank Zander streift jetzt durch die Gräberreihen. "Mensch", sagt er. "Hier ist es viel lustiger und schöner als auf ´nem normalen Friedhof." Durch sein nachtblaues Seidenhemd braust der Wind. "Ist doch och für die Kinderchen schön hier." Sein Schlüsselbund klappert und signalisiert seiner Frau, dass es Zeit ist. Wenig später ist ihr silberfarbenes Auto nicht mehr zu sehen. Die Mitfünfzigerin lässt sich wieder in ihre Alltagsgebärden fallen, ist aber noch etwas benommen, weil Prominenz sie gestreift hat. "Wenigstens ein Autogramm hätte er uns geben können", sagt sie und kichert sich aus ihrer Schwärmerei. Zanders Hund hat einen Grabstein mit Foto. Er heißt wie ein Schlagertitel: Jeannie. "Ach, die kommen ja nie", sagt die Frau nicht ohne Vorwurf. "Vielleicht zweimal im Jahr, aber öfter auf keinen Fall", stimmt einer der beiden Männer ihr zu. Die Frau denkt laut darüber nach, was das eigentlich für eine Hunderasse ist, der Jeannie angehört und starrt auf das Foto. Dann fällt es ihr doch noch ein, und der Name zischt durch die Luft wie ein Samuraischwert oder eine japanische Kampfsportart oder ein asiatischer Gesundheitshefepilz. "Shitsu", sagt die Frau. Nein, sie wollte keinen Grabstein für ihren Hund Benni. Es koste ja auch was, und so mit den roten Petunien ist es ja auch ganz schön. "Die Grabsteine", flüstert sie, "werden ja auch manchmal umgestoßen. Wahrscheinlich irgendwelche Tierschutzgegner. Man muss ja im Verein sein, um hier bestatten zu können; sonst geht das nicht. Kostet so 30 Euro im Jahr. Oder?" Sie schaut die Männer an, aber die zucken nur mit den Schultern. "Na ja, auch egal. Die buchen das einfach ab vom Konto. Die Grube hebt jemand vom Tierheim aus. Wir haben unseren Benni in eine Decke gewickelt, und dann kam er da rein", sie deutet mit dem Dauerwellenkopf nach unten. "Und dann schüttet die Grube wieder jemand vom Tierheim zu. Und das war´s schon." Der Tierarzt beseitige ja auch tote Tiere, aber das konnten sie sich für ihren Benni nicht vorstellen. "Die sollen ja in der DDR die toten Tiere gekocht und dann für Kosmetik verwendet haben", sagt der eine Mann und spült am Wasserhahn den Pappbecher aus. Daraufhin schweigen die Drei. "Na ja, man hört so allerlei; aber hier ist es doch schön", sagt die Frau sichtlich darum bemüht, das Schreckenspotenzial der vorangegangenen Behauptung zu dezimieren.
Frau Etzel wird abgeholt. Der Fahrer des Telebusses ist ein Berliner Urgestein, aber den Friedhof hat er eine Ewigkeit nicht gefunden. "Verflucht und zugenäht", sagt er zu Frau Etzel, "was hätten ´se bloß gemacht, wenn ich wieder umgekehrt wäre?" Wahrscheinlich hätte Frau Etzel eine Ewigkeit gewartet. Der Blick des Fahrers schweift über die Gräber, als wollte er fragen, ob man tot sein muss, um so ein schönes zuhause zu haben.
Zwischen all den ehemals schnurrenden und knurrenden Zehengängern liegen zwei, die in all der Geschwätzigkeit Auskunft geben könnten: die Polizeidiensthunde Waldo (1936-1954) und Brando (1973-1980). Ihr Grab bedeckt nur Immergrün. Waldo hätte viel zu erzählen.
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