Die Rückseite des Begehrens

#MeToo Die Debatte um sexualisierte Gewalt ist unvollständig. Denn sie leugnet weibliche Fantasien
Ausgabe 51/2017
Die Rückseite des Begehrens

Illustration: der Freitag

Vier bullige Bodyguards. Im Halbstundentakt durchqueren sie den Plenarsaal im City-Cube. Es ist SPD-Parteitag, Mitte Dezember in Berlin. Ich sehe die Bodyguards, die SPD-Chef Martin Schulz schützen sollen, und frage mich: Warum umringt sich der Mann mit diesen vierschrötigen Typen?

Einen Tag zuvor hatte Schulz in seiner Rede betont, wie unerträglich es für ihn sei, täglich zu lesen und zu hören, wie viele Frauen von Sexismus betroffen seien. Wie viele Opfer von Gewalt und Belästigung würden. Und wie viele Männer leise davonkämen.

Die Bodyguards fielen mir aus zwei Gründen ins Auge: Zum einen wunderte ich mich, dass ein Parteivorsitzender sich derart martialisch vor seinen eigenen Delegierten beschützen lassen muss. Zum anderen finde ich Bodyguards – wie Polizisten und Soldaten – tendenziell hot. Weswegen ich auch kleinere Diebstähle gerne persönlich auf der Polizeiwache melde. Oder erwartungsvoll in rund um Kasernen befindlichen Grünanlagen joggen gehe. Das ist natürlich alles ein wenig peinlich. Aber es erzählt etwas über weibliche Fantasien. Just die werden in der Auseinandersetzung mit Sexismus und sexualisierter Gewalt, bei der #MeToo-Debatte, ignoriert. So, wie männliche Fantasien tabuisiert werden.

Unerträglich ist für Martin Schulz auch, wie er weiter sagte, der Gedanke, mit Männern zu reden, deren Begehren sie in das falsche sexuelle Verhalten lenkt. Ein solches Interesse würde postwendend als Respektlosigkeit den Opfern gegenüber verstanden werden. Oder noch schärfer: Es würde die Opfer denunzieren.

Das Ich löst sich auf

Das ist schräg: Weil dahinter der Gedanke steckt, dass nicht zusammengehören kann, was nicht zusammengehören darf. Zumindest nicht in der von jedem Keim des Zweifels befreiten, Millionen Testimonials umfassenden #MeToo-Bewegung in den sozialen Netzwerken. Ich um Ich reiht sich dabei bereitwillig ein in das „auch“. Man könnte auch sagen: Das Ich löst sich auf in diesem vielstimmigen #MeToo.

Im selben Netz jedoch findet sich, nur ein, zwei Klicks entfernt, die von jeder Moral befreite, mehrere Millionen Nutzer umfassende Welt von YouPorn, auf deren Startseite minderjährig aussehende Mädchen als tight delight angepriesen werden. Das wird aus der sogenannten Sexismus-Debatte ebenso herausgetrennt wie das weit in feministische Gewissheiten hineinragende Wohlwollen für Prostitution. Zumindest solange sie im Gewand der sogenannten selbstbestimmten Sexarbeit daherkommt. Oder in gern geklickten „Ich bin ein Escort und ich steh dazu“-Ergüssen abgefeiert wird.

Ich mag, ehrlich gesagt, weder in diesen noch in andere Texte einfügen, dass man mich bitte nicht falsch verstehen möge, dass ich natürlich jede Form von Missbrauch ablehne und Täter selbstverständlich bestraft werden müssen. Was ich indes heftig ablehne, ist eine Empörungsfolklore, die erzwingt, derlei Selbstverständlichkeiten äußern zu müssen. Und die folgenden „Ja aber“-Gedanken gleichwohl sofort zurückweisen wird. Der Debatte um Sexismus und sexualisierte Gewalt fehlt jedwede alternative Position.

Empörung ist immer isolationistisch. Sie tötet Kontext, weil sie sich selbst genügt. Die einzige Zustands-Option in der Causa #MeToo ist Betroffenheit. Als Opfer oder als Opfer-Versteher. Niemand, wirklich niemand möchte hier der anderen Seite zuhören. Auch und vor allem nicht bei sich selbst: Der Täter in mir ist als Denkfigur tabu. Selbst probehalber.

Dabei könnte ja vielleicht neben Abseitigem manch Wissenswertes ans Licht kommen. Oder gar Wissenswertes im Abseitigen. Mindestens ließe sich der Punkt ausmachen, an dem eine mögliche Verhandlung abgebrochen und der Irrweg des Übergriffigen beschritten wurde.

Begehren ist nicht politisch. Vor allem aber ist es nicht ideologisch. Es ist die Manövriermasse unserer sexuellen Identität, ein Vorschlag, den die Lust dem Handeln macht. Die Rückseite des Begehrens ist Verkennung. Die Verkennung des oder der anderen, die ich mit meinem Begehren konfrontiere und möglicherweise versehre. Gleichwohl kann ich Begehren nicht ignorieren oder denunzieren, weil es zu entgleisen in der Lage ist. Es lässt sich ja nicht nur in den prominentesten Dichotomien – Sado/Maso und Exhibitionist/Voyeur –, sondern in all seinen Präferenzverästelungen durchaus komplementär organisieren, wie man zum Beispiel den Kürzelorgien der Sex-Apps entnehmen kann. Dazu muss es, über Kürzel und Verkürzungen hinaus, beschreibbar sein. Und eben beschrieben werden. Nicht zuletzt am Beispiel der eigenen Person.

Mich etwa interessiert die Frage, warum Männer wie der französische frühere Politiker Dominique Strauss-Kahn und der US-Filmproduzent Harvey Weinstein ungefragt vor Frauen masturbiert haben. Oder der US-Komiker Louis C. K., der die Frauen vorher zumindest gefragt hat. In meiner Wahrnehmung drückt sich darin eher eine Ohnmachts- denn eine Machtdemonstration aus. Eine Machtdemonstration würde zumindest voraussetzen, den anwesenden Frauen etwas zu versagen, was diese gerne hätten. Und die Macht zu haben, es ihnen zu verwehren.

So zumindest mein Verständnis – dem einmal sogar die entsprechende Inszenierung folgte. Ein unterwürfiger Verehrer musste mir erst mal eine Wagenladung Yves-Saint-Laurent-Kosmetik stehlen und die zahllosen goldenen Döschen anschließend in meinem Wohnzimmer arrangieren, bevor er mir – wohlgemerkt vollständig bekleidet – bei multiplen Orgasmen zusehen musste, nein durfte. Ich bilde mir bis heute ein, dass wir ein gemeinsames Begehren geteilt haben. Gültig allein in diesem Moment und in dieser Konstellation.

Der Exhibitionist ohne anwesenden Voyeur hingegen scheint mir eine traurige Figur zu sein. Er entblößt sich und seine Einsamkeit einem wahlweise desinteressierten oder entsetzten Publikum. Warum nur? Ich würde das gerne verstehen.

Ebenso gerne wüsste ich, wie sich für Teenager das „erste Mal“ im Spannungsfeld von Pornokonditionierung und #MeToo- Empowerment organisiert. Ob sie zwischen den wahlweise konsumistisch oder ideologisch konfektionierten Vorgaben Raum für eine eigene Version von Begehren finden können? Und wie gerade junge Frauen mit mehr als den beiden die Gegenwart dominierenden Rollenbildern – der femme fragile, also dem zuspruch- und liebesfixierten Hascherl einerseits, und der übertoughen Besserwisserin andererseits – zu jonglieren lernen?

Politik mit Unterleib

Wo heute Macht und Sexualität thematisch verknüpft werden, landet man zügig beim Missbrauch. Und fast immer bei jenem Gedanken, der von mächtigen, triebhaft aufgeladenen Männern ausgeht und sich gegen machtlose und in ihrer Sexualität nicht beschriebene Frauen richtet.

Die Femme fatale hingegen, also jene verheißungs- wie verhängnisvolle Verführerin, die Männer im Dienste des eigenen Begehrens in vielgestaltiges Unglück zu stoßen weiß, ist als Vorschlag für ein weibliches Gesamtkunstwerk nicht einmal mehr im Kino anzutreffen.

Vielleicht, dachte ich beim SPD-Parteitag mit Blick auf Schulz’ Bodyguards und das weibliche Führungspersonal der SPD, wäre das ein interessantes Rollenmodell für die politische Bühne: Frauen, die lustvoll Männer fressen und dabei sehr, sehr gut aussehen. Gewissermaßen Politik mit Unterleib.

Begehren ist kein Gefühl, es ist der Fingerabdruck der sexuellen Identität. Seine Rückseite ist die Verkennung, die es dem begehrten Objekt überstülpt. Über Gefühle kann man nicht streiten, sie sind einfach da. Deswegen gibt es keine wahrhafte, keine ehrliche Debatte um #MeToo, sondern vor allem eine Verhärtung der Standpunkte. Zumindest ein Verschwinden des gegensätzlichen Standpunkts. Was führt heraus aus diesem Dilemma? Vielleicht versuchen wir mal, eine Schneise durch den Empörungsdschungel zu schlagen.

Heike-Melba Fendel ist Romanautorin sowie Künstler- und PR-Agentin

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