Amnestie als Belohnung

Vorgeschichte Scheinbare Abschweifungen und kritische Erinnerungen zu Carolin Emckes RAF-Buch

Man stelle sich vor, der Bundesgerichtshof hätte in den sechziger Jahren dem Chef einer großen deutschen Bank ordentlich die Leviten gelesen und dem Gericht, an das er das Verfahren zurückschickte, detailliert gesagt, wie es zu verfahren habe. Man stelle sich vor, dieses Instanzgericht hätte sich um die Beurteilung des Bundesgerichtshofs nicht gekümmert und dem Bankchef erlaubt, sich - pardon - durch einen Griff in die Portokasse freizukaufen und ungestört an seinen alten Platz zurückzukehren. So hat es der Chef der größten deutschen Bank, der Deutschen Bank, Josef Ackermann, vor gar nicht so langer Zeit erleben dürfen. Kann man sich heute vorstellen, dass das in den sechziger Jahren ohne eingeschlagene Fensterscheiben in Filialen der Deutschen Bank abgelaufen wäre? Damals hatte es die Manager dieser und anderer großer Banken oder anderer Unternehmen zum Nachdenken genötigt, wenigstens für eine Weile etwas vorsichtiger zu sein. Nein, das kann sich heute kaum noch einer vorstellen. Vielleicht Lidl, vielleicht die Telekom? Deshalb hat es um die Einstellung des Verfahrens gegen Herrn Ackermann auch nur ein paar verwunderte, kaum oder nur gemessen entrüstete Kommentare gegeben, ehe man zur Tagesordnung zurückkehrte.

Alles wird jetzt gleichgesetzt: die Studentenrevolte und die RAF. Es wird der Eindruck erweckt, das eine sei die nachgerade zwingende Folge des anderen und genauso übel. So ist dieser Tage zur 40-jährigen Wiederkehr kaum noch von den so genannten Achtundsechzigern die Rede, obwohl sie schon viel früher aktiv waren, nicht schossen und das Land auf eine heute nicht mehr bekannte oder nicht anerkannte Weise befreiten. Diese "68er" fragten nach der Nazizeit und veranlassten den Gesetzgeber, alten Ballast abzuwerfen, was schon 1949 nach der Verkündung des Grundgesetzes hätte geschehen müssen: Frauen wurden jedenfalls nach den Gesetzen endlich gleichberechtigt, die Diskriminierung nichtehelicher Kinder wurde beseitigt, Homosexualität und Ehebruch straffrei, Eltern nicht mehr wegen Kuppelei verfolgt, wenn sie ihrem Kind gestatteten, einen Freund oder eine Freundin zum Übernachten in die Wohnung mitzubringen.

Die zwölf Nazijahre waren eine Zeit, in der der halbwegs etablierte Bürger sich nach den schweren Minderwertigkeitskomplexen, die dem Dreißigjährigen Krieg und der danach gründlich misslungenen deutschen Geschichte, der Reichsgründung und dem Ersten Weltkrieg folgten, wieder Selbstbewusstsein schöpfte und dachte, nun seien "wir wieder wer" - ohne zuvor lange wirklich etwas gewesen zu sein. Die Nazis waren mehrheitlich hoch willkommen, auch wenn es manche gab, denen sie zu ordinär waren. Doch was machte das schon aus, als wir Polen besiegten, die Franzosen überrannten und ganz Europa besetzten? Was scherte das die späteren 20. Juli-"Helden", die als Antidemokraten, Antirepublikaner, Antisemiten und Antikommunisten angetreten waren und sich über den Sieg in Polen, in Frankreich und die Eroberung ganz Europas freuten, mehr noch über den Feldzug gegen das "kommunistisch-jüdische System" in der Sowjetunion - und erst sehr spät, zu spät erkannten, wie die Dinge wirklich standen? Die meisten Deutschen hielten sie lange für Hochverräter, für Wahnsinnige, die uns des wohlverdienten Sieges gegen die Welt beraubten. In der Erwartung der Wunderwaffen des "geliebten Führers" gingen die letzten Monate und Tage des Zweiten Weltkrieges zu Ende.

Es begann die lange Zeit des Schweigens und Leugnens, der Kalte Krieg kam auf, in dem die Westdeutschen von den West-Alliierten dringend gebraucht und deshalb mit dem Marshall-Plan aufgepäppelt wurden. Da waren die langen Jahre der Adenauer-Regierung, des Wirtschaftwunders und der Vollbeschäftigung.

Nach den verlorenen Kämpfen der Fünfziger - zum Beispiel gegen die Wiederbewaffnung - schwappte 1962 aus der kalifornischen Universität in Berkeley die Jugendrevolte nach Europa, und das Free Speech Movement wiederum war angesteckt von der Bürgerrechtsbewegung der Südstaaten. 1968 war die Zeit der APO in der Bundesrepublik vorüber. Damals musste sich kaum ein Demonstrant vor Arbeitslosigkeit fürchten. Muss man deshalb heute alles akzeptieren? Seinerzeit war es leichter, in die "Außerparlamentarische Opposition" zu gehen. Das taten nicht wenige - und wahrlich nicht gerade zum Nachteil dieses Landes.

Bin ich vom Thema abgekommen? Von dem, das Carolin Emcke in ihrem Buch Stumme Gewalt anspricht? Nein, denn man muss zwischen der so genannten Studentenrevolte und der späteren RAF vor allem deshalb wieder deutlich unterscheiden, weil Carolin Emcke sich - von einem Kurzausflug zur frühen Ulrike Meinhof abgesehen - fast nur mit den Tätern und Opfern der RAF auseinandersetzt und sich mit den vorangegangenen Jahren nicht beschäftigt. Der frühen RAF billigt Emcke duchaus ernste Motive und zutreffende politische Analysen zu, die durch die Gewaltakte und nachfolgende RAF-Generationen freilich verloren gingen.

Die Autorin zieht den Leser schon auf den ersten Seiten in das Buch hinein: Sie schildert ihre Beziehung zu dem kurz nach dem Fall der Mauer von der RAF ermordeten Alfred Herrhausen, der ihr eine Art Patenonkel war und den sie gut leiden konnte. Sie flog sofort nach der Tat von London nach Frankfurt, nahm sich ein Taxi zum Tatort, wo sie den ausgebrannten Herrhausen-Wagen sah. 18 Jahre später fängt sie an, dieses Buch zu schreiben und ihre Gedanken, aber vor allem ihre Fragen auszubreiten. Und das geschieht in einer bei diesem Thema bislang ungekannten Offenheit, so frei von Vorbehalten und ideologischer Verklemmtheit, dass mancher Leser auf die Idee kommen könnte, Carolin Emcke habe am Ende sogar Sympathie für die Täter - was sie indes immer wieder gleich zurechtrückt: Sie will nur wissen, was tatsächlich passiert ist.

Und doch werden die Schatten der damaligen Taten und des Schweigens über die angeblich ermittelten Fakten, der Lücken und der unaufgeklärten Fragen immer länger; sie legen sich über das ganze Buch, das einen zunehmend trauriger macht, weil man die deutsche Geschichte im Hintergrund nicht vergessen kann.

Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar tauchen wiederholt mit ihren Gnadengesuchen auf, auch das Interview, das Günter Gaus 2001 mit Klar im Bruchsaler Gefängnis geführt hat und das bei der Trauerfeier für Gaus erwähnt wurde. Unvergesslich, wie der nach der Feier von mir auf Klar angesprochene Bundespräsident Rau vor der Kirche sagte, das sei aber doch alles sehr schwierig. Kurz darauf ließ er das Gnadengesuch unbearbeitet zurück, so wie er auch 1973 als nordrhein-westfälischer Kultusminister in der Frage von Ulrike Meinhofs Haftbedingungen schon gekniffen hatte. Präsident Köhler hat Klars Gnadengesuch 2007 entschieden zurückgewiesen. Klar konnte beim Gaus-Interview, da war er "erst" seit 19 Jahren in Haft, auch Isolationshaft, kaum sprechen. Er sitzt inzwischen im 26. Jahr im Gefängnis.

Wer, wenn er nicht ein schwerer Sittlichkeitsverbrecher oder "normaler" Mörder ist, hat in diesem Lande je so lange sitzen müssen? Ein Nazitäter etwa? An niemand anderem haben sich der aufgewühlte und in seinen Grundfesten, im Kern seines Selbstverständnisses attackierte deutsche Bürger und der von ihm gewählte Staat je so gerächt wie an dieser RAF-Generation.

Ein paar weitere Beispiele? Generalbundesanwalt Siegfried Buback sagte dem Stern 1975 in einem Interview, einer wie Baader habe kein Recht auf einen fairen Prozess, und in dem Stammheimer Prozess im selben Jahr stellte der Vorsitzende Richter des 1. Strafsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart, Theodor Prinzing, Ulrike Meinhof immer wieder das Mikrofon ab. Am zweiten Prozesstag verkündete das Gericht, die drei Baader-Anwälte Hans-Christian Ströbele, der jetzige Grünen-Abgeordnete im Bundestag, Klaus Croissant und Kurt Groenewold seien vom gesamten Verfahren ausgeschlossen. Die durch die lange Isolation gesundheitlich schwer geschädigten Angeklagten durften nach dem Beschluss des Gerichts nicht von unabhängigen Ärzten untersucht werden. Als sogar die Gutachter des Gerichts den gesundheitlichen Verfall der Angeklagten feststellten, verbot das Gericht den Anwälten, aus den Gutachten zu zitieren - und verhandelte ohne die Angeklagten weiter. Unabhängige Richter? Nur dem Gesetz verpflichtet, wenn es sich um Leute handelt, die die Basis des Landes in Frage stellen?

Durch ihr ganzes Buch zieht sich Carolin Emckes Wunsch, die RAF-Leute sollten endlich reden, ihre Geschichte erzählen, den Opfern sagen, wie ihre Angehörigen umgekommen sind, denn etliche Morde sind immer noch nicht aufgeklärt. "Sie sollen gehen dürfen. Frei sein. So frei, wie man sein kann, wenn man Schuld auf sich geladen hat. Aus dem Gefängnis sollen sie entlassen werden. Aber reden sollen sie vorher. Bitte. Wenn wir das wollen, dann müssen wir die Bedingungen dafür herstellen, dass sie es können. Freiheit gegen Aufklärung. Amnestie für das Ende des Schweigens" - auch für die Täter, die wir noch gar nicht kennen. Vermutlich weiß die Autorin, ein wie zweifelhafter, ja geradezu utopischer Vorschlag das ist. Abgesehen davon, dass es hoch fragwürdig ist, ob die RAF-Leute zu sprechen bereit wären - nicht zuletzt, weil sie uns nicht trauen -, sähe dieser Gnadenakt wie eine Belohnung der RAF aus. Sonst müsste man eine solche Amnestie generell für alle Täter einführen.

Der dem Buch angefügte Kommentar des Verfassungsrichters Winfried Hassemer Wohin mit RAF? enttäuscht: Es handelt sich um abgehobene 18 Seiten, die mit Emckes Buch kaum etwas zu tun haben und die Verlag und Autorin sich vermutlich nicht abzulehnen getrauten, nachdem sie diese schlechte Idee erst einmal verfolgt hatten. Der zweite Kommentar stammt von dem in 68er- und RAF-Fragen inzwischen längst unvermeidlichen und nervenden Wolfgang Kraushaar, der seit Jahren erst zögernd, dann entschlossen die haltlose "Totalitarismustheorie" für sich wieder erfand, in der Nazis und Kommunisten gleichgesetzt werden. Gespielt naiv fragt er, warum zum Beispiel Mohnhaupt und Klar "nicht endlich reinen Tisch" machen und "schildern, wie es zu ihren Taten gekommen ist, wer daran beteiligt war und wie sie sich im Einzelnen abgespielt haben?" Aber so ein Bekenntnis heißt doch, dem Angeklagten sein Ur-Recht auf Schweigen abzusprechen, ihn aufzufordern, Mittäter zu denunzieren. Ist das ein zumutbarer oder auch nur ein vernünftiger Gedanke? n

Im Jahr nach der medialen Großerinnerung an "30 Jahre Deutscher Herbst" hat die Journalistin Carolin Emcke ein Buch vorgelegt, das unter dem Titel Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF einen anderen Umgang mit der Geschichte des deutschen Terrorismus vorschlägt. Die verkürzte Formel lautet: "Freiheit für Aufklärung" (Freitag 22/2008). Hinter dieser Forderung steckt aber ein differenzierter, persönlicher, fragender Text, der sich in seiner Offenheit von einer Vielzahl der einschlägigen Bücher zur RAF unterscheidet. Heinrich Senfft hat Emckes Buch gelesen.

Heinrich Senfft ist Publizist, Verfasser mehrerer Bücher (unter anderem Die sogenannte Wiedervereinigung bei Rowohlt Berlin), vor allem aber Jurist. Als zweiter Anwalt besuchte er einst Ulrike Meinhof in der Haftanstalt Köln-Ossendorf.

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