In babylonischer Gefangenschaft

EU-Staatsbürger Mit dem Lissabon-Vertrag entsteht für Europäer eine neue Bürgerpflicht: eine selbständige Stimme gegen die Obrigkeit zu entwickeln

Die anhaltende Weltwirtschaftskrise macht uns das Fehlen einer politisch handlungsfähigen und demokratisch verfassten Europäischen Union schmerzlich bewusst. Für die Bürger bleibt das politische Handeln in der EU unsichtbar – Vorlagen werden durch Expertengruppen erarbeitet, in denen die informelle Macht der Wirtschaft gut gedeiht. In nichtöffentlichen Verhandlungen fallen die Entscheidungen – den Exekutivorganen der EU sind Hoheitsrechte übertragen, die immer tiefer in die politische Souveränität der Mitgliedstaaten eingreifen. Zugleich fehlt den Beschlüssen der EU demokratische Legitimation, weil sie keinem Willensakt der vereinigten europäischen Staatsbürger zu verdanken sind.

So konnten die EU-Zentrale in Brüssel und der Europäische Gerichtshof fast ungehindert liberale Wirtschaftsfreiheiten dekretieren. Sollen die Mitgliedsländer doch zusehen, wie sie mit den sozialen Kosten fertig wurden: Prekariat, Niedriglöhne, Kinderarmut und Verscherbelung öffentlichen Eigentums des Staates sowie der Kommunen. Als die Weltwirtschaftskrise im Sommer 2007 ausbrach, übten sich die europäischen Regierungen ein Jahr lang im Schönreden. Nach dem Fall der US-Bank Lehman Brothers im September 2008 brachen Panik und Hektik aus, um schließlich eine halbherzige Reform der europäischen Bankenaufsicht zustande zu bringen.

Doch die schwärende Integrationskrise wird auch durch das Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages am 1. Dezember nicht beendet sein. Der Reformvertrag lässt lediglich verspätet jene Organisationsziele erreichen, die auf dem EU-Gipfel von Nizza im Jahr 2001 verfehlt wurden. Vielmehr droht nun die Integrations- in eine offene Legitimationskrise der europäischen Gemeinschaft umzuschlagen, sobald die Folgen der derzeitigen Rezession im Alltag ankommen und mehr Arbeitslose heraufbeschwören.

Die europäischen Staatsbürger sollten daher ihre weinroten Pässe zeigen und die günstige Gelegenheit nutzen, der Babylonischen Gefangenschaft des Neoliberalismus zu entfliehen und den Blick auf zwei Nahziele zu richten. Erstens: auf ein europaweites Referendum über eine abgestufte Integration. Damit ließe sich bestätigen, was der Wahlmodus einer „doppelten Mehrheit“ aus dem Lissabon-Vertrag ohnehin bewirkt: ein Kerneuropa, dessen Bürger eine Forcierung der Einheit wünschen, mit einem direkt gewählten Präsidenten, einem eigenen Außenminister, einer gemeinsamen Steuer- und Sozialpolitik. Die Länder der EU-Peripherie könnten hingegen auf dem jetzigen Integrationsniveau verharren und das Recht besitzen, sich später Kerneuropa anzuschließen. Das entspricht dem einfachen und zwingenden Vorschlag, wie ihn Jürgen Habermas in seinem Buch Ach, Europa unterbreitet hat. Der Sinn eines eines solchen Referendums läge darin, mit dem elitären Politikmodus des Regierens „für das Volk“ zu brechen.

Zeitungen europäisieren

Damit die europäischen Bürger ihre Rechte wirklich gebrauchen können, sollte das zweite Nahziel darin bestehen, eine europäische Öffentlichkeit zu schaffen. Dies wäre möglich, indem etwa die nationalen Qualitätszeitungen der EU-Staaten europäisiert werden – eine Entwicklung, bei der die Intellektuellen eine tragende Rolle spielen könnten. Einstweilen verwenden sie ihre Kraft darauf, die Forderungen der Sloterdijk und Bolz nach der Rückkehr zum Manchester-Kapitalismus zurückzuweisen. Natürlich liegt es für die Bürger nahe, sich selbst um eine europäische Öffentlichkeit zu kümmern, indem sie die Frage stellen: Was spricht für die Vertiefung der europäischen Einheit?

Sie sollten das tun, weil sie als Bürger nicht nur verpflichtet sind, demokratische Institutionen ihres politischen Gemeinwesens zu unterstützen. Sie sind auch verpflichtet, undemokratische Entwicklungen zu kritisieren und notfalls neue demokratische Institutionen zu schaffen, wenn das aus normativen Gründen geboten erscheint. Jene Institution, die in der EU nur als leere Hülse existiert, ist die der europäischen Staatsbürgerschaft selbst. Bisher sind die EU-Bürger nur Adressaten europäischen Rechts – mit anderen Worten: „untertänige“ europäische Rechtspersonen. Erst wenn sie sich wirklich als Akteure europäischen Rechts begreifen, gewinnen sie den Status von „europäischen Staatsbürgern“. Es gilt das Prinzip: Kollektive Selbstbestimmung bei der Gesetzgebung gehört zum Kern jeder Form von Demokratie, auch einer transnationalen. Da die EU ein Zusammenschluss von Nationalstaaten ist und kein gewöhnlicher Bundesstaat, wird die intergouvernementale Gesetzgebung des Rates und des Parlaments zwar immer eine starke Stellung einnehmen müssen. Das ändert aber nichts daran, dass die derzeitige Einflusslosigkeit der EU-Bürger eine unhaltbare politische Ungerechtigkeit ist.

Gewiss ließe sich gegen das Postulat einer europäischen kollektiven Verantwortung einwenden: Es gibt keine politischen Pflichten der EU-Bürger, weil die EU eben kein Staat ist? Dies ist insofern richtig, als es sich um eine durch völkerrechtliche Verträge begründete supranationale Organisation handelt, die keine eigene Verfassung hat. Die EU ist aber eine Gemeinschaft, die dem politischen Willen der Bürger der europäischen Nationalstaaten entsprang. Sie betrachteten es nach den Großkatastrophen der beiden Weltkriege als ihre moralische Pflicht, eine europäische Friedensordnung zu stiften. Wie der Blick auf die jüngste Vergangenheit und die aktuelle Weltlage zeigt, bleibt eine solche Ordnung nicht nur vieles schuldig, sondern kann mitnichten als abgeschlossen betrachtet werden. Die europaweiten Massenproteste vom 15. Februar 2003 waren nicht allein eine Absage an den drohenden Irak-Krieg und die Politik der USA sowie die mit der Bush-Administration kooperierenden Regierungen in London, Madrid, Rom, Lissabon, Prag, Budapest und Warschau. Diese Proteste lebten auch aus der Rückerinnerung an den historischen Grund der europäischen Gemeinschaft als Friedensordnung, die freilich in den fünfziger Jahren mit dem Blick auf den Freihandel und einen gemeinsamen Wirtschaftsraum zunächst als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) etabliert wurde.

In diesem Umstand wurzelt das demokratische Defizit, das zur neoliberalen Fesselung der folgenden europäischen Einigung führte. Statt Kooperation und Integration gelten spätestens seit dem Barcelona-Prozess aus dem Jahr 2000 Standortkonkurrenz und Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedsstaaten als Richtschnur. Schließlich war die Osterweiterung von 2004 dazu angetan, die krasse Ungleichheit zwischen den Mitgliedsstaaten zu Bewusstsein zu bringen. Die anstehende Sozialisierung der Krisenkosten könnte nun dazu führen, die Spaltungen so weit zu treiben, dass dadurch dem europäischen Projekt selbst existenzielle Gefahr droht. Es ist daher eine unabweisbare Verantwortung der EU-Bürger, diese verschiedenen Ungleichheiten zu bekämpfen.

Zweite Begründung der EU

Wird diese politische Pflicht eingelöst, kommt das einer zweiten Begründung der EU gleich. Denn angesichts einer neoliberal geführten Globalisierung ist der einzelne Nationalstaat immer weniger in der Lage, die sinkende „Kaufkraft“ der Stimmzettel und den Verfall der sozialen Rechte aufzuhalten. Über die EU als supranationale Organisation könnten politische Handlungsfähigkeit und demokratische Gestaltungskraft neu konstituiert werden. Gelingen dürfte dies jedoch nur, wenn es gelingt, die Institution einer europäischen Staatsbürgerschaft aufzulegen.

Um jede Unklarheit auszuschließen, die politische Pflicht der europäischen Staatsbürger bezieht sich nicht nur auf das Innere der Europäischen Union, sondern genauso auf die Handlungsfähigkeit nach Außen. Als Nutznießerin der Weltwirtschaftsordnung hat die EU eine besondere Verantwortung für deren gerechte Umgestaltung. Das verlangt eine eigenständige Rolle gegenüber der USA und eine demokratischen Reform der UNO wie anderer globaler Institutionen von der Welthandelsorganisation über die Weltbank bis zum Internationalen Währungsfonds. Noch ist dieses handlungsfähige und demokratische Europa ein Ort namens Nirgendwo. Wir werden nur dann seine Staatsbürger sein, wenn wir als Weltbürger handeln.

Heinz-Bernhard Wohlfarth promovierte über Volker Braun und lebt als freier Autor in Berlin

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