Die gegeißelte Geisel

55. DokLeipzig Ohne Preis, aber politisch heiß: Der Film "Der Kapitän und sein Pirat" führt auf dem Dokumentarfilmfestival in Leipzig vor, wie schwer Täter und Opfer zu trennen sind

Im Sommer 1983 stand ich in Jalapa, einem Grenzort Nikaraguas, und hörte Schüsse der Contras von der honduranischen Seite. Die sandinistische Regierung, in der damals Dichter wie Ernesto Cardenal oder Sergio Ramírez saßen, hatte für Journalisten eine Exkursion ins nördliche Kampfgebiet organisiert. Überall im Lande war die Euphorie spürbar.

Als Kind hatte diese auch Mercedes Moncada Rodríguez erlebt und rief sie jetzt in Bildern ihres Films Palabras Mágicas (Para Romper un Encataniento) in Erinnerung, der im „Fokus Lateinamerika“ des Leipziger Dokumentarfilmfestivals lief. Drei Jahrzehnte später macht der Film aber auch die Enttäuschung deutlich darüber, dass in der Folge persönliche Macht- und Klasseninteresssen wieder eine Rolle spielen. Fast eine späte Bestätigung für Ronald Reagans Worte vom 27. April 1983: „Die Sandinistische Revolution erreichte in Wirklichkeit nur den Austausch einiger selbstherrlicher Herrscher durch andere gleichen Stils“.

Nicht nur mit dem Interesse für Lateinamerika stand Leipzig in seiner politischen Festivaltradition. Helena Třeštíková, spezialisiert auf Langzeitbeobachtungen, kombinierte in ihrer bisher längsten, Soukromý Vesmír, Aufnahmen der Familie ihrer Freundin mit Fernsehbildern als sozialem Hintergrund. Dem MDR war das den Preis für einen herausragenden osteuropäischen Dokumentarfilm wert. Ein anderes Familienporträt, Colombianos von Tora Mårtens, verdiente sich eine Goldene Taube – zwei gegensätzliche Brüder und deren Mutter in komplizierten Beziehungen zwischen Kolumbien und Schweden.

Somalia-Syndrom

Die Goldene Taube im Deutschen Wettbewerb ging an Gerd Kroske für Heino Jaeger – Look before you kuck. Der Film ist eine Erinnerung an den vergessenen Kabarettisten und Maler, dessen Zerrissenheit von der Prägung durch den Krieg, Begabung und Abstieg in Alkoholismus und Psychiatrie der Film in Gesprächen mit Wegbegleitern nachvollzieht. Ungewöhnlich für Leipziger Beiträge, ist der Film bereits am Donnerstag im Kino angelaufen.

Einen solchen Start wünschte man sich auch für einen durch den Einsatz deutscher Marine vor der somalischen Küste gegen Piraten ganz aktuellen Film: Der Kapitän und sein Pirat von Andy Wolff. Vier Monate befand sich das deutsche Frachtschiff „Hansa Stavanger“ 2009 in der Hand von Piraten. Der Reederei war das Schicksal ihrer Angestellten egal, sie antwortete weder auf die Forderungen der Piraten noch auf die Appelle des Kapitäns. Daraus erwuchs fast eine Freundschaft zwischen Entführer und Geisel, und der Filmemacher hatte das Glück – und den Kameramann Yusuf Guul –, beide ausfindig zu machen, wodurch wir in dem Anführer der Piraten einen intelligenten jungen Mann kennenlernen; Opfer weltweiter Konflikte sind beide.

Manche Festivalbeiträge litten unter Wortlastigkeit, die Ästhetik des Genres kam zu kurz. Filme, die nur Bilder sprechen ließen, wie der des Schweizer Leipzig-Veterans Erich Langjahr (Mein erster Berg – ein Rigi Film), waren selten. Schlangen vor allem junger Leute vor Kinokassen erwiesen dagegen die Attraktivität des Dokumentarfilms – ein Gegensatz zu den Finanzierungsnöten der Regisseure: Laut einer Umfrage der AG Dok können 85 Prozent der Dokumentaristen nicht von ihrer Filmarbeit leben.

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