Die Spur der Filme

Nachruf Zum Tod des Regisseurs Frank Beyer

Am 28. Oktober 1989 herrschte im Ostberliner Klub der Kulturschaffenden eine ähnliche Stimmung wie zwei Jahre zuvor im Moskauer Haus des sowjetischen Verbandes der Film- und Fernsehschaffenden, als dort zum ersten Mal der zwanzig Jahre zuvor gedrehte und sofort verbotene Film Die Kommissarin von Aleksander Askoldov gezeigt wurde; im Übrigen ein Meisterwerk, das danach um die Welt ging und bei jener ersten Vorführung im Kreise der fast vollzähligen Moskauer Intelligenzia mit tiefer Bewegung und minutenlangen Ovationen aufgenommen wurde.

Auch die erste Vorführung des DEFA-Films Spur der Steine nach 23-jährigem Verbot fand an jenem Sonnabend ohne öffentliche Ankündigung statt, aber es war ein erstes sichtbares Zeichen der "Wende" auch im Bereich des Films und ein Akt der Wiedergutmachung. Im Juli 1966 hatte man zur Vorführung im Ostberliner Kino International Störtrupps entsandt - bestellte vox populi, Alibi-Lieferanten für die Absetzung des Films. Einer, der damals als Junger Pionier buhen sollte, saß jetzt unter den Zuschauern der Wiederaufführung, neben Opfern damaliger kulturpolitischer Säuberungen: Hans Bentzien, der nach dem filmischen Kahlschlag des 11. Plenums des ZK der SED als Kulturminister abberufen wurde, Klaus Wischnewski, der nach dem Verbot von Spur der Steine seinen Posten als Chefdramaturg der DEFA verlor, und Frank Beyer, der Regisseur dieses Films, der damals in die Provinz, ans Dresdner Theater, abgeschoben wurde und nun, mit Tränen in den Augen, sein aus den Archiven auferstandenes Werk wiedersah.

Inzwischen ist Spur der Steine so etwas wie ein Kultfilm geworden. Im Westen reduziert sich die Kenntnis von Beyers umfangreichen Œuvre (rund 25 Spielfilme) fast darauf, obwohl es darunter noch mehr "Klassiker" gibt, die oft auch mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Eine davon war die Zurückziehung seines Films Der Aufenthalt von der Berlinale.

Dem verdankte ich damals meine erste persönliche Bekanntschaft mit Beyer. Um die Hintergründe jener Maßnahme publik zu machen, baten er und sein Autor Wolfgang Kohlhaase mich um ein Interview für die Frankfurter Rundschau, in der ich zuvor eine enthusiastische Kritik veröffentlicht hatte. Der Grund für die erzwungene Festivalabstinenz des in der DDR mit großem Erfolg laufenden Films waren polnische Einwände. Der Held des verfilmten gleichnamigen Romans von Hermann Kant gerät nach Kriegsende durch eine Verwechslung unschuldig in polnische Haft und erlebt dort bis zu seiner Freilassung die Konfrontation mit wirklichen SS- und Wehrmachtsmördern. Antipolnische Gefühle konnte das nicht auslösen. Bei einer meiner Wiederbegegnungen mit Frank Beyer lief Der Aufenthalt 1996 im Rahmen einer Retrospektive seiner Filme erfolgreich in Lissabon.

Nicht beim Film, sondern beim Theater sammelt der am 26. März 1932 im thüringischen Nobitz geborene Beyer erste künstlerische Erfahrungen. Mit 19 Jahren arbeitet er als Dramaturg und Regisseur an dem kleinen Theater Crimmitschau in Sachsen. 1952 beginnt er ein Regiestudium an der renommierten Filmhochschule FAMU in Prag. Sein Abschlussfilm ist zugleich seine erste DEFA-Produktion: Zwei Mütter (1957), die Geschichte einer französischen Zwangsarbeiterin, deren Kind während eines Bombenangriffs von einer Krankenschwester einer Deutschen zugeschanzt wird. Dass man in Babelsberg da ein neues Regietalent gewonnen hat, wird allerdings erst 1960 bei Fünf Patronenhülsen spürbar. Hierfür arbeitet Beyer zum ersten Mal mit drei bekannten Schauspielern zusammen, die dann noch öfter bei ihm bemerkenswerte Rollen spielen: Armin Mueller-Stahl, Manfred Krug und Erwin Geschonneck, der im kommenden Dezember seinen 100. Geburtstag feiern kann.

Mit diesem Film aus dem spanischen Bürgerkrieg hat Frank Beyer eines seiner wichtigsten Themen gefunden: Antifaschismus. Er nimmt es wieder auf in Königskinder (1962), ein Markstein in der DEFA-Entwicklung, steht es doch damals wie Gerhard Kleins Der Fall Gleiwitz und Konrad Wolfs Professor Mamlock für die Rückbesinnung auf eine lange vernachlässigte optische Ästhetik, in der expressiven allegorischen Bildgestaltung dieser tragischen Geschichte zweier durch Faschismus und Krieg auseinandergerissenen Liebenden nicht zuletzt ein Verdienst von Beyers langjährigem Kameramann Günter Marczinkowsky. Zu Unrecht ist Königskinder weniger bekannt geblieben als Beyers folgende (konventionellere) Verfilmung des Buchenwald-Romans Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz. Wie hier spielt Erwin Geschonneck auch die Hauptrolle in einem der wenigen gelungenen DEFA-Lustspiele Karbid und Sauerampfer (1964), bei dem Beyer zum ersten Mal die unmittelbare Nachkriegszeit komödiantisch betrachtet, inklusive der eigenen Besatzungsmacht.

Wie viele Intellektuelle in der DDR hatte auch Beyer gehofft, dass nach der Aussperrung des Klassenfeinds durch den Mauerbau nun Kritik an Deformationen der sozialistischen Gesellschaft möglich sein müsste. Zu vorher nicht möglichen Bucherscheinungen gehörte ja unter anderen Erik Neutschs Roman Spur der Steine. Das Tauziehen um dessen Verfilmung, die ursprünglich sogar als Festivalbeitrag für Karlovy Vary vorgesehen war, endete aber mit einem Sieg der Dogmatiker. Erst nach dem erzwungenen Dresdner Theaterintermezzo konnte Beyer wieder ab 1970 beim Fernsehen arbeiten, wo er mit dem Mehrteiler Rottenknechte ein Geschehen vom Kriegsende rekonstruiert: Noch nach der Kapitulation wird ein Gruppe junger Matrosen von Militärrichtern zum Tode verurteilt. Seine hier gesammelten "Marine-Erfahrungen" kamen dem Regisseur 1993 noch einmal bei seiner ZDF-Produktion Das letzte U-Boot zugute.

Einen DEFA-Erfolg konnte er 1974 mit Jakob der Lügner verbuchen, dem einzigen DDR-Film, der je für den Oscar nominiert war. Eine erste Fassung des Stoffs hatte Beyer schon im Dezember 1965 in Babelsberg vorgelegt. Was damals zur Zeit des 11. Plenums keine Chance hatte, ermöglichte neun Jahre später Jurek Beckers inzwischen geschriebener Roman-Bestseller. In Zusammenarbeit mit diesem Autor entstand danach auch Beyers intelligente Ehekomödie Das Versteck, die aber wegen Hauptdarsteller Manfred Krugs Umzug nach Westberlin erst mit einjähriger Verspätung versteckt in die Kinos gelangte. Sie geriet auch in die Turbulenzen um die Biermann-Ausbürgerung, gegen die Beyer, Becker, Krug und seine Partnerin im Film, Jutta Hoffmann, protestiert hatten.

Wieder eine Ehegeschichte verfilmte Beyer danach für das Fernsehen, hatte damit aber noch mehr Pech: Geschlossene Gesellschaft wurde in Adlershof vom ursprünglichen Primetime-Sendeplatz ohne Vorankündigung am 29. November 1978 in ein Mitternachtsghetto verbannt. Das intensive Kammerspiel hielt der DDR-Gesellschaft eine illusionslosen kritischen Spiegel vor. Halb scherzhaft nannte Beyer einmal Geschlossene Gesellschaft die vollständig introvertierte Fassung von Spur der Steine. Personell waren die Folgen dem Spur der Steine-Debakel vergleichbar: Frank Beyer wurde aus der SED ausgeschlossen, Fernsehchef Hans Bentzien verlor, wie seinerzeit als Kulturminister, seinen Posten, Autor Klaus Poche und die Protagonisten Jutta Hoffmann und Armin Mueller-Stahl gingen bald darauf in den Westen.

Zum ersten Mal realisierte auch Frank Beyer seine nächsten beiden Filme beim West-Fernsehen. Die Adaption des Romans Der König und sein Narr von DDR-Autor Martin Stade konnte in dem vom preußischen "Soldatenkönig" Friedrich Wilhelm I. und seinem Hofrat Jacob Paul von Gundling personifizierten Konflikt zwischen Macht und Geist wie ein Kommentar zu Beyers eigenen Erfahrungen gesehen werden. Schon Heiner Müller hatte den historischen Gundling als Kunstfigur auf die Bühne gebracht, und jener in der DDR offiziell als überwunden deklarierte Konflikt wurde in historischem Gewande auch in verschiedenen DEFA-Filmen thematisiert. Mit Der König und sein Narr, Beyers bestem Fernsehfilm, begann die Zusammenarbeit zwischen dem Regisseur und Drehbuchautor Ulrich Plenzdorf, die sich dann in Der Bruch fortsetzte. Diese, ein wahres Gangsterstück von 1931 frei ins Jahr 1946 verlegte gelungene Kriminalkomödie mit Götz George, Otto Sander und Rolf Hoppe als Gaunertrio war die letzte deutsch-deutsche Coproduktion. Drei Jahre später wird aus inzwischen gesammelten realen gesamtdeutschen Erfahrungen eine Familien-"Komödie mit Widerhaken": Das große Fest (1992).

Beyers einziger Kinofilm nach der "Wende" war ein Vor-"Wende"-Projekt, dessen Stoff ihn schon nach der Erstveröffentlichung von Volker Brauns durch einen authentischen Fall inspirierte Erzählung Unvollendete Geschichte 1975 in der Zeitschrift Sinn und Form interessiert hatte. Erst im Sommer 1989 konnte daraus ein Filmszenarium von Ulrich Plenzdorf werden. Beyers Babelsberger Realisierung von 1990/91, kurz vor dem Ende der DEFA, trägt den Titel Der Verdacht und handelt von dem die ganze Atmosphäre in der DDR vergiftenden permanenten Misstrauen. Instrumentalisiert durch die Stasi, zerstört es im Film eine Liebe. Mit seiner milieu-echten schnörkellosen Inszenierung wirft Beyer einen Blick zurück im Zorn, ohne dabei die Züge der von ihm skizzierten DDR-Gesellschaft zu verzerren.

Ein größeres Publikum erreicht er damit nicht mehr. Das verschaffen ihm noch einmal seine beiden letzten, wiederum DDR-Vergangenheit beschwörenden, Fernsehverfilmungen von Erich Loests Roman Nikolaikirche (1995) und Manfred Krugs Autobiografie Abgehauen (1998), mit ihrer Rekonstruktion der Rebellion von DDR-Künstlern gegen die Biermann-Ausbürgerung auch ein Teil von Beyers eigener Biografie.

Schon 1960 hatte er als junger Regisseur postuliert: "Man sollte nie einen Film machen, für den man nicht brennt." Und 1995 formuliert er, was jeden seiner Filme auszeichnet: "Alle Figuren, die auftreten, müssen ihre Chance haben; man muss ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen und darf sie nicht preisgeben oder denunzieren." Mit Beyers Tod am 1. Oktober ist der deutsche Film um einen seiner großen und in seltener Bescheidenheit ehrlichsten Regisseure ärmer geworden.


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