Ein Kanarienvogel in Athen

Film Entdeckungen auf dem 47. Internationalen Filmfestival im tschechischen Karlovy Vary

Ein junger Mann mit Megafon läuft durch die Straßen Tokios, verdammt Mulitplexe und agitiert für den Film als Kunst. Auf der Terrasse seines Hauses führt er wie in einem Filmklub für ein kleines Publikum Buster-Keaton-Filme vor. Sein Traum: selbst Filme zu machen. Geld hat er vom Bruder bekommen, aber den hat die Mafia ermordet und nun droht ihm das gleiche Schicksal, falls er die Schulden den Gangstern nicht zurückzahlt. Zu deren Vergnügen stellt er sich ihnen als punching bag zur Verfügung, um damit das Geld zusammenzubekommen und schließlich doch seinen Film zu realisieren.

Eine bizarre Metapher auf die Kompromisslosigkeit engagierter Filmemacher. Der in den achtziger Jahren bekanntgewordene iranische Regisseur Amir Naderi, der jetzt in New York lebt, hat seinen jüngsten Film Cut (Foto) in Japan gedreht und ihn als originellen Beitrag beim Filmfestival Karlovy Vary präsentiert.

Interessante Entdeckungen

Auch sonst konnte man in Nebereihen interessantere Entdeckungen machen als in einem eher schwachen Wettbewerb. Den gewann der norwegische Film The Almost Man von Martin Lund, die Komödie um einen 30-Jährigen, der nicht erwachsen werden will. Für den Kristallglobus nebst 25.000 Dollar nicht eben prädestiniert. Eine bessere Juryentscheidung war der Spezialpreis für Marco Tullio Giordanas Piazza Fontana: Die italienische Verschwörung, ein Dokudrama um das Bombenattentat auf eine Mailänder Bank mit 17 Toten am 12. Dezember 1969. Anfangs Anarchisten in die Schuhe geschoben, führen die Spuren zu Geheimdiensten.

Als aktuellen Kontext zur griechischen Krise konnte man das Debüt von Ektoras Lygizos To agori troi to fagito tou pouliou (Boy eating the Bird’s Food) lesen: drei Tage im Leben eines jungen Athener Arbeitslosen, der das Futter (mit seinem) Kanarienvogel teilt. Aktuelle Bezüge auch im Debüt von Mohcine Besri, Les Mécréants (The Miscreant), aus Marokko über das Kidnapping einer jungen Theatergruppe durch fanatische Islamisten.

Forum für den osteuropäischen Film

Traditionell bietet Karlovy Vary stets ein Forum für den osteuropäischen Film. Herausragend aus dem tschechischen Angebot war Petr Nikolaevs Lidice, eine Erinnerung an eines der größten deutschen Verbrechen: die totale Auslöschung jenes Dorfes und seiner Einwohner als Rache für das Attentat auf „Reichsprotektor“ Reinhard Heydrich 1942. Aus der Slowakei kam eine halbdokumentarische Sozialstudie von Iveta Grófová (Made in Ash) über zwei Freundinnen, die in der Textilfabrik der Stadt an der böhmischen Grenze zu Deutschland Geld verdienen möchten, aber bei Auftragsrückgang mit anderen ausländischen Arbeiterinnen entlassen werden und sich zum Überleben mit deutschen Pensionären abgeben.

Dass der Zweite Weltkrieg immer noch ein russisches Thema ist, bewiesen eindrucksvoll zwei deutsche Koproduktionen. Eva Neymann, Absolventin der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb, schildert nach einem autobiografischen Roman von Friedrich Gorenstein in realistischen Schwarzweiß-Bildern das traurige Schicksal eines achtjährigen Jungen im Hungerwinter 1944 vor Kriegsende (Dom s bashenkoy/House with a Turret). Der renommierte Dokumentarist Sergej Loznitsa adaptierte für seinen zweiten Spielfilm V tumane (In the Fog) einen Roman von Vasil Bykow über die Konfrontation zweier Partisanen mit einem vermeintlichen Verräter in den belorussischen Wäldern.

Dass Amir Naderis Plädoyer für den Film als Kunst in Karlovy Vary am richtigen Ort war, zeigte die Zustimmung des begeisterungsfähigen Publikums.

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