Erinnern

DIAGONALE Vom Festival des österreichischen Films in Graz

Im Jahr 2004 stand die Diagonale auf der Kippe. Die Regierung hatte sich für die Proteste des Festivals gegen die schwarz-blauen Koalition gerächt, indem sie eine neue, ihr genehme Leitung einsetzen wollte. Als dies am Widerstand der Filmemacher scheiterte, entzog sie der alljährlichen Werkschau in Graz alle Mittel. Reduziert fand die Diagonale doch statt dank des idealistischen Einsatzes aller Beteiligten. Unter der neuen, von unten gewählten Leiterin, der Filmwissenschaftlerin Birgit Flos, fließen nun wieder alle Subventionen, und die Zielscheibe einstiger Proteste, Jörg Haider, macht nur noch Schlagzeilen als Spaltpilz in der eigenen Partei.

Verblasst ist auch der Ruhm des österreichischen Films. Bestand seine Stärke im genauen Blick auf kleinbürgerliche Existenzen, so zeichnete sich bei den gegenüber Dokumentar-, Kurz- und Experimentalfilmen auch quantitativ minoritären Spielfilmen des heurigen Diagonale-Jahrgangs eine Tendenz zu unverbindlich Unterhaltsamem ab. Angesichts von Curt Faudons hanebüchenem Horror-Thriller im Filmmilieu, Tödlicher Umweg, wirkte Wolfgang Murnbergers satirischer Anti-Salzburg-Rundumschlag Silentium als seltener Lichtblick.

Besonders ärgerlich war das Misslingen des thematisch wichtigen Spielfilms Mein Mörder von Elisabeth Scharang. Authentischer Hintergrund ist der für die braunen Flecken in der österreichischen Nachkriegsgesellschaft exemplarische Fall des Euthanasie-Arztes Heinrich Gross, dessen unheilvolle Rolle in der Klinik Spiegelgrund ihn nicht an einer durch seine SPÖ-Mitgliedschaft von Behörden und Parteien gedeckten Karriere als Wissenschaftler und Gerichtsgutachter hinderte. In Scharangs Fiktion wird daraus eine Konfrontation von Hans, einem Beinahe-Opfer, dem als Zehnjährigem die Flucht aus Spiegelgrund gelingt, und dem NS-Täter, der ihn 1955 als lästigen Zeugen wieder einsperren lässt, bis dieser schließlich - nun selbst studierter Psychiater - seinen Peiniger 1970 im Gerichtssaal anklagt. Der simuliert bei einem folgenden Verfahren Verhandlungsunfähigkeit, was ihn - wie in der Realität - vor einer Verurteilung rettet. Noch heute lebt er unangefochten in Österreich, und die Sammlung von Gehirnen der Spiegelgrund-Opfer, in der NS-Zeit mit der Legitimation einer wissenschaftlichen Verwertbarkeit angelegt, wurde erst 2002 begraben. Von alldem erfährt der Zuschauer aber nicht einmal durch ein Insert am Schluss. Stattdessen endet der Film mit der glücklichen Wiedervereinigung von Hans und seiner Jugendliebe, wozu ein Märchenmotiv mit einem leibhaftigen Bären aufgenommen wird.

Vor fünf Jahren hatten Angela Schuster und Tristan Sindelgruber die Spiegelgrund-Affäre in einer Dokumentation filmisch öffentlich gemacht. Jetzt erinnerten beide in ihrem Film Operation Spring mit Aussagen Betroffener und zeitgenössischen Medienreaktionen an den 1999 erfolgten größten Polizeieinsatz gegen die Drogenmafia, erstmalig gestützt auf den legalisierten Lauschangriff. An die hundert Afrikaner wurden inhaftiert und verurteilt: in anfechtbaren Verfahren mit fadenscheinigen Begründungen, wie Schuster und Sindelgruber in jahrelangen Recherchen herausfanden und spannend wie eine Detektivstory auf die Leinwand brachten.

Dass österreichische Dokumentaristen heute so etwas wie das Gewissen der Nation sind, bewies auch Thomas Kortschils und Eva Simmlers Film Artikel 7 - Unser Recht. Der Titel bezieht sich auf eine Bestimmung im Staatsvertrag von 1955, wonach sich Österreich dazu verpflichtete, seine ethnischen Minderheiten zu schützen. Mit Archivmaterial und Zeitzeugenberichten blickt der Film zurück auf die in den siebziger Jahren geführten Auseinandersetzungen um schulische Gleichstellung der Slowenen und die Doppelsprachigkeit von Kärtner Ortstafeln. Bis heute wird den zehn Prozent slowenischer Mitbürger trotz höchstrichterlicher Urteile durch die von Landeshauptmann Haider unterstützten Deutschnationalen des Bundeslandes verwehrt, was für Lausitzer Sorben selbstverständlich ist.

Mit zehn anderen Produktionen gehört Artikel 7 zu einem Diskussionsangebot engagierter Filmemacher "Wider das Verdrängen und Vergessen" und "gegen Gedankenlosigkeit des Jubiläumsjahres". Befürchtet wird, dass die mit großem Aufwand betriebenen Jubiläumsaktivitäten um den Staatsvertrag von 1955 auch den alten Opfermythos aufwärmen könnten, der nach 1945 Österreich von aller Mitschuld am Nationalsozialismus reinwaschen sollte. Zum Gegenbeweis genügte die im historischen Rahmenprogramm gezeigte erste Ostmark Wochenschau mit Bildern der den deutschen Einmarsch und die Ankunft des "Führers" bejubelnden Massen. Allerdings: Wer im deutschen Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.


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