Im Laufe der Zeit

Filmgeschichte In den "Kindern von Golzow" spiegelt sich der durch die „Einheit“ herbeigeführte gesellschaftliche Wandel und rückt manche DDR-Phobie von Besser-Wessis zurecht
Ausgabe 29/2015

Sportrekorde zu feiern gehört zum Medienalltag, Filmrekorde zu registrieren ist weit seltener, schon gar, wenn es sich um Dokumentationen handelt, wie bei der hier nur in Superlativen zu würdigenden „ältesten Langzeitbeobachtung des internationalen Films“, die schon einen Platz im Guinnessbuch der Rekorde gefunden hat. Laut einer internationalen Umfrage der Stiftung Deutsche Kinemathek zählt Die Kinder von Golzow zu den „100 wichtigsten deutschen Filmen in den ersten hundert Jahren Weltkino“, der US-Fachzeitschrift Variety galt er als „einzigartiger Meilenstein der Filmgeschichte“.

43 Stunden

Über diesen zu stolpern führt in den 1.000-Einwohner-Ort Golzow im Oderbruch. Seine Entdeckung durch die Kamera (Hans-Eberhard Leupold, Harald Klix und Hans Dumke) verdankt er dem renommierten DEFA-Dokumentaristen Karl Gass (1917–2009). Der setzte kurz nach dem Mauerbau seinen damaligen Regieassistenten Winfried Junge auf die Fährte, um eine Langzeitchronik über Schulanfänger zu beginnen als „Porträt einer in einer sozialistischen Gesellschaft aufwachsenden Generation“.

1961 erschien mit dreizehn Minuten der erste Film Wenn ich erst zur Schule geh, 2007 lagen am Ende der Dreharbeiten fast 43 Stunden in 19 Filmen, acht abendfüllenden Einzelporträts und vier Langfilmen vor und von den einst 24 ABC-Schützen blieben neun übrig, deren Lebensläufe Winfried Junge, später gemeinsam mit Ehefrau Barbara, für die Nachwelt konserviert hat.

Das alles ist nun aus einem Buch zu erfahren, das der einstige DEFA-Spielfilmdramaturg Dieter Wolf herausgegeben hat. Angereichert mit vielen Bildern, den Inhaltsangaben aller Filme sowie Zuschauer- und Pressestimmen, liest es sich spannend bis zur letzten Zeile. Nicht zuletzt spiegelt sich in den Biografien der Kinder von Golzow der durch die „Einheit“ herbeigeführte gesellschaftliche Wandel und rückt manche DDR-Phobie von Besser-Wessis zurecht. Unterschiedliche Charakteristika ostdeutscher Sozialisationen wie frühe Lebensgemeinschaften oder (oft auch wieder getrennte) Ehen und bald geborene Kinder werden bestätigt, nicht immer Berufswünsche erfüllt. Nur wenige engagierten sich politisch, aber die Nichtteilnahme an der Jugendweihe hat weder der katholischen Elke noch der evangelischen Marieluise in der DDR Nachteile gebracht. Für viele wurde Arbeitslosigkeit eine neue Erfahrung.

Mit gleicher Offenheit wie gegenüber seinen Interviewpartnern ergänzt Autor Winfried Junge das Buch um eine ausführliche Biografie von sich selbst sowie von Ehefrau und Mitarbeiterin Barbara. Bei der Lektüre weiß man nicht, was man mehr bewundern soll: die Aktivität bei der Regiearbeit von über 30 anderen außer den Golzow-Filmen zwischen 1961 und 1989 oder die Hartnäckigkeit bei der schwierigen Beschaffung weiterer Produktionsmittel nach Versiegen der DEFA-Gelder. Zeitweilige Stütze war immerhin das Fernsehen, vor allem der rbb.

2.500 Besucher

Bei Junges füllt Zuschauerpost dicke Aktenordner, und das Golzower „kleinste Filmmuseum der Welt“ mit deren Sammlung zählte jährlich etwa 2.500 Besucher. Die Klassenräume stehen mangels Schülern heute leer.

Winfried Junge zog einmal Bilanz: „Der Film, der als Hymne gedacht war, sich als Protokoll alltäglichen Lebens im realen Sozialismus erwies, ist am Ende zu einem Requiem auf die DDR geworden. Von bestimmten Gegenden – Dörfern meist – sagt man oft leichthin und locker: Hier möchtest du nicht begraben sein. Über Golzow im Oderbruch sage ich das schon lange nicht mehr.“

Info

Und wenn sie nicht gestorben sind ... Die Kinder von Golzow Barbara/Winfried Junge, Dieter Wolf (Hg.) Schüren 2015, 192 S., 19,90 €

ARD-alpha strahlt schon seit Mai und noch bis 6. November immer freitags, 20.15 Uhr, alle Filme der Langzeitbeobachtung Die Kinder von Golzow aus

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