In einem großen Kinosaal sitzen wenig mehr als eine Handvoll Leute. Auf der Leinwand der chinesische Martial-Arts-Klassiker Dragon Inn. Hin und wieder kommt ein neuer Besucher. Andere rauchen auch mal in düsteren Gängen, durch die ab und zu eine hinkende Frau schlurft, die sonst an der Kasse sitzt. Außer Wortfetzen von King Hus´ Filmhelden aus den späten sechziger Jahren ist nichts zu hören - bis nach 40 Minuten der erste Satz fällt, mehr als zehn werden es dann nicht. Nach 82 Minuten ist die ereignislose Last-Picture-Show aus.
Im Gegensatz zu ihrem spärlichen Publikum auf der Leinwand war das Parkett im Wiener Gartenhaus-Kino voll. Viennale-Besucher stehen - bis auf wenige flüchtende Ausnahmen - auch sonst Ungewohntes durch. Während des alljährlichen Filmfestivals in der gemeinhin eher mit Musik und Theater in Verbindung gebrachten Hauptstadt Österreichs sind Angebote wie Bu San aus Taiwan gar nicht so selten. Regisseur Tsai Ming-Liang ist mit seinen eigenwilligen melancholischen Filmen seit 1995 hier schon Stammgast - eine Ehre, die er mit anderen Kollegen teilt, denen Festivaldirektor Hans Hurch die Treue hält. Dabei öffnet er auch immer wieder den Blick nach Asien. Aus China kam diesmal ein wiederum ganz wortarmer Film langer ruhiger Einstellungen. In seinem Debut Shang Shan beobachtet Zhu Chuanming, der auch selbst die Kamera führte, fast dokumentarisch das einfache Alltagsleben von Bergbauern.
Niemals kommt dabei Langeweile auf, im Gegensatz zu einem anderen all-self-made Autorenfilm, und das obwohl ihn sein Regisseur nach der Cannes-Premiere schon wesentlich gekürzt hatte: The Brown Bunny von Vincent Gallo. Die Viennale widmete dem Schauspieler und Regisseur ein Special. Regie- und Darstellerporträts gehören zur Festivaltradition. Im Kontrast zu Bush-Fan Gallo, der auch mal mit einem "Fuck Israel"-T-Shirt und Hakenkreuz an der Lederjacke provozierte, galt ein Tribut dem Dokumentaristen Emile de Antonio, der vor allem in den sechziger und siebziger Jahren mit formal faszinierenden Filmen unter anderem über McCarthy, Nixon, den Kennedy-Mord und den Vietnam-Krieg brillierte.
Eine eindringliche Sozialstudie über hoffnungslose Randexistenzen kam, nicht zum ersten Mal, aus dem Iran. Ausgehend von einer Zeitungsmeldung über den Mord eines sich danach selbst tötenden Pizzafahrers an einem Juwelier schrieb Abbas Kiarostami ein Drehbuch, das Jafar Panahi mit Laiendarstellern realistisch in Szene setzte und dabei den Kontrast zwischen Arm und Reich erfahrbar machte: Talaye Sorgh.
Die Viennale hat sich in den 41 Jahren ihres Bestehens aus bescheidenen Anfängen zu einem attraktiven Publikumsfestival entwickelt, das in seiner Mixtur als cinéphilem Gemischtwarenladen, Edelboutique und Raritätenkabinett für jeden etwas bietet. Stärker repräsentiert als sonst war diesmal die heimische Produktion. Nach einigen Road-Movies gab es hier ein Fluss-Movie: Donau, Duna, Dunaj, Dunav, Dunarea von Goran Rebic. Otto Sander als melancholischer Kapitän eines alten Donaudampfers befördert einige entwurzelte Existenzen auf dem in den verschiedenen Sprachen der Anrainerstaaten titelgebenden Fluss bis zum Eisernen Tor, wobei seine Passagiere unterwegs eine neue Heimat finden.
Auf der Viennale machten die Vertreter des österreichischen Films ansonsten eher durch filmpolitische Diskussionen von sich reden. Es ging um die Austrofilmschau Diagonale, die Constantin Wulff und Christine Dollhofer in den vergangenen Jahren in Graz zu einem erfolgreichen Publikumsfestival und Forum der jungen experimentierfreudigen Szene gemacht hatten. Über die Köpfe der heimischen Branche hinweg setzte Kulturstaatssekretär Franz Morak (ÖVP) nun ein neues Leitungsteam ein. Eine Mannschaft aus katholischem und Fernseh-Milieu mit Kommerz-Trend. Neu ist die Ausdehnung des Festivals mit 20 bis 30 Wettbewerbsfilmen auf Südosteuropa (Ruth Beckermann: "Habsburg-Nostalgie").
Schmackhaft machen will Morak seinen Polit-Streich durch eine Erhöhung des Budgets auf 1,5 Millionen Euro und zahlreiche neue Preise bis 250.000 Euro für einen Sunrise Austria Award. Die Filmschaffenden ließen sich davon bisher nicht ködern und riefen mit über 600 Unterschriften in seltener Einigkeit inklusive der Prominenz von Michael Haneke bis Ulrich Seidl zum Boykott der als konzeptionslos geouteten neuen Diagonale auf. Es wurde beschlossen, im zeitlichen Umfeld der Diagonale im März ein Gegenfestival zu organisieren. Bei Antritt der schwarz-blauen Koalition war auf der Diagonale "Die Kunst der Stunde ist Widerstand" proklamiert worden. Mal sehen, was jetzt der Widerstand gegen Moraks späte Rache bringt.
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