Das Wort vom Ausverkauf der DDR scheint sich wohl bald auch im Palast der Republik zu bestätigen." Das schrieb ich am 15. Januar 1990 am Ende meiner Kritik der letzten Inszenierung des Theaters im Palast der Republik. Mit dem nun bald zu erwartenden Abriss des schon lange nur noch als Ruine stehen gebliebenen Repräsentationsbaus der DDR verschwindet auch ein Stück Theatergeschichte, das dort geschrieben wurde und das der Erinnerung wert ist, gerade weil das TIP - wie die gebräuchliche Abkürzung des Theaters lautete - anders als alle anderen Ostberliner Bühnen mit Ausnahme des Metropoltheaters seine Tradition nicht fortsetzen konnte. Dabei gab es dort während seiner nur vierzehnjährigen Existenz einige der bemerkenswertesten Inszenierungen zu sehen.
Anders als die anderen war es schon damals. Dass man eine Rolltreppe benutzen musste, um zu seinem stets unnummerierten Sitz zu gelangen, gehörte nicht zu den einzigen Besonderheiten. Im 4. Stock des Palastes war dem TIP eine "Ecke" eingeräumt. Die von den Architekten nicht als Theater konzipierte Räumlichkeit ist siebeneinhalb Meter hoch, von weißen Marmorsäulen unterbrochen, mit einer großen Glaswand in Blickrichtung Unter den Linden. Für jede Inszenierung wurde ein neues Arrangement gefunden, auf die klassische Guckkastenbühne meistens verzichtet.
Es besaß kein festes Ensemble und an seiner Spitze stand eine Frau - immer noch die Ausnahme im männerbeherrschten Bühnenbetrieb. Ostberliner Volksmund bedachte Intendantin Vera Oelschlegel auch bald nach Amtsantritt ebenso wie das Gebäude, in dem sie residierte ("Palazzo Prozzo"), mit Spitznamen wie "Palast-Neuberin" oder "TIP-Mamsell". Die gebürtige Leipzigerin begann ihre Laufbahn als Chansonsängerin, oft auch Brecht-Interpretin, gastierte mit ihrem Begleit-"Ensemble 66" seit Mitte der sechziger Jahre erfolgreich in rund 20 Ländern, bis sie gleich bei der Gründung im April 1976 die Leitung des TIP übernahm. Dass dabei die Protektion des damals mit der Oelschlegel verheirateten Berliner Bezirkssekretärs der SED Konrad Naumann eine Rolle spielte, verübelten ihr offensichtlich Ostberliner Theaterkritiker, die ihre Inszenierungen oft weit unter Wert rezensierten, obwohl sie ihre Stellung immer wieder dazu nützte, auch Unbequemem ein Forum zu bieten.
Nach dem im November 1988 verfügten Verbot der sowjetischen Zeitschrift Sputnik erlaubte sich das TIP zu den Paul-Dessau-Tagen der zeitgenössischen Musik einen besonderen politischen Gag. Unter dem Titel Post modern, komponiert von Reiner Bredemeyer, sang ein aus prominenten Komponisten, Sängerinnen und der Intendantin bestehender Chor den ADN-Text über die Streichung der durch Glasnost attraktiv gewordenen Publikation von der Postzeitungsliste. Das Donnerwetter der Partei ließ natürlich nicht auf sich warten.
Argwöhnisch beobachtet wurden auch die Schriftstellerlesungen, bei denen Aufpasser besonders freimütige Äußerungen in den Diskussionen registrierten - wovon auch Markus Wolf nicht ausgenommen war, ganz zu schweigen von Günter Gaus. Zu den prominenten Gästen gehörten Dschingis Aitmatow, Bulat Okudshawa und Jewgenij Jewtuschenko ebenso wie Erich Fried, Ernst Jandl, Barbara Frischmuth und Friederike Mayröcker; aus Westdeutschland kamen unter anderen Gabriele Wohmann, Peter Härtling, Rolf Hochhuth und Günter Grass, dessen ketzerische Bemerkungen, wie "Dubc?ek war die Vorwegnahme von Gorbatschow", einen beantragten zweiten Auftritt allerdings unmöglich machten.
Begonnen hat das TIP, dem ein jährliches Budget von 1,5 Millionen zur Verfügung stand, am 24. April 1976 mit einer Inszenierung, an der noch Wolfgang Heinz beratend mitwirkte und die sich dann zehn Jahre auf dem Spielplan hielt: Salut an alle. Marx. Günter Kaltofen und Hans Pfeiffer hatten nur Originalzitate aus Briefen von Karl und Jenny Marx und Friedrich Engels szenisch montiert. Die Protagonisten waren neben Vera Oelschlegel zwei der treuesten TIP-Gäste: Brecht-Schwiegersohn Ekkehard Schall, damals stellvertretender Intendant des Berliner Ensembles, und Bernhard-Minetti-Sohn Hans-Peter Minetti, damals Rektor der Ostberliner Hochschule für Schauspielkunst. Seitdem gab es mehr als 70 Inszenierungen, zu deren Gastregisseuren auch Ruth Berghaus, Thomas Langhoff und Friedo Solter zählten.
Noch vor Alexander Lang im Deutschen Theater (1986) inszenierte im TIP der junge Engländer David Leveaux Strindbergs Totentanz. Das Interesse konzentrierte sich hier auf das virtuose Spiel Ekkehard Schalls. Sein Edgar war komisch und tragisch, führte einen mitleiderregenden Kampf gegen Alter und Krankheit, machte spürbar, dass sich dieser Mann in den Hass flüchtete, weil er um Liebe betrogen wurde. Der gleiche Schauspieler war dann im TIP Krapp in der ersten Beckett-Inszenierung auf einer DDR-Bühne.
Hier konnte man auch zuerst den in der Sowjetunion lange geächteten Michail Bulgakow als Dramatiker kennen lernen. Dessen eigene Erfahrungen unter Stalin reflektierten in historischen Analogien seine Stücke Verschwörung der Heuchler (Molière) und Die letzten Tage (Puschkin). Thomas Langhoffs Inszenierung des Molière-Dramas (1982) bezog ihren Reiz vor allem aus dem Spiel von Theater auf dem Theater, lebte von großartigen Darstellerleistungen Rolf Ludwigs, Inge Kellers und Dieter Manns. Im Intrigenspiel, das Molière zwischen König und Erzbischof stellt, wurde deutlich, in welcher Abhängigkeit von der Macht sich die Künstler und ihre Kunst befinden. Die aktuelle Absicht, das Beklemmende, Nicht-Zeitgebundene an der Konfrontation eines Großen mit einer kleingeistigen Umwelt zu zeigen, war auch in Friedo Solters Inszenierung des Puschkin-Stücks (1984) erkennbar, in dem der Dichter nie selbst auftritt, seine misslichen letzten Lebensumstände nur über Personen seiner Umgebung vermittelt werden. Wie ein roter Faden durchzieht das Stück die ständige Überwachung Puschkins durch die zaristische Geheimpolizei.
Am eindrucksvollsten geriet Kurt Veth und den jungen Lyrikern Steffen Mensching und Hans-Eckardt Wenzel die Inszenierung eines anderen dramatischen Imports aus der Sowjetunion: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht von Swetlana Alexijewitsch. Den Titel kannte man bereits aus einem Dokumentarfilmzyklus. Die Bühnenfassung der Erinnerungen Hunderter Kriegsteilnehmerinnen hatte das avantgardistische Moskauer Theater an der Taganka zusammen mit der Autorin erarbeitet. Darauf stützte sich das TIP in seiner mit den vielfältigsten theatralischen Mitteln gestalteten szenischen Collage. Die Nachgeborenen, chorisch differenziert Heutiges skandierend oder singend, begegnen vier Frauen (verkörpert unter anderem von Lotto Loebinger, 80, mit der Erfahrung des Moskauer Exils, und Steffi Spira, 78, seinerzeit in mexikanischer Emigration) und einem ihrer männlichen Kommandeure. Die Brücke zwischen den Generationen schlugen Schauspielstudentinnen, die das jüngere Ich der Veteraninnen verkörperten. Bei der ganz unpathetischen Ehrlichkeit des Berichts blieb nicht ausgespart, dass den Verteidigerinnen ihrer Heimat trotz aller Orden und Medaillen der Dank des Vaterlandes bei der Heimkehr keineswegs ungeteilt gewiss war, sie sich "Frontmatratzen" und "FEF" (Frontersatzfrau) titulieren lassen mussten. Die an der Besetzung dieser Produktion ablesbare enge Zusammenarbeit mit der Ostberliner Hochschule für Schauspielkunst fand seit 1981 ihren besonderen Ausdruck in der Existenz einer Meisterklasse am TIP.
Dass das TIP keineswegs die Rolle einer offiziösen Staatsbühne spielte, wie sein Domizil manchmal vermuten ließ, bewies es mit der besten Inszenierung des Prinz Friedrich von Homburg, die ich je gesehen habe. Wie zuvor schon das Deutsche Theater mit Alexander Langs Trauriger Geschichte von Friedrich dem Großen und die Volksbühne mit der DDR-Erstaufführung von Heiner Müllers Leben Gundlings ... wandte sich damit das TIP gegen die fragwürdige partielle Preußen-Renaissance in der DDR. Unter deutlicher konzeptioneller Mitarbeit Heiner Müllers inszenierte Vera Oelschlegel Kleists oft als Disziplinierungsvorbild missbrauchten Prinz Friedrich von Homburg als preußischen Alptraum. Die Widmung sprach ein Knabe, angetan mit Helm, Spielzeugschwert und Schulbrottasche: Aus Kindern drillte der Staat viele Prinzen von Homburg. Günter Naumann als Kurfürst war ganz autoritärer Herrscher, der in seinem perversen Gehirnwäschespiel mit dem Prinzen auch an Stalin und dessen Schauprozesse denken ließ. Die von ihm grausam inszenierte "Hinrichtung" Friedrichs endete mit dessen Ordensdekorierung unter Heil-Rufen. Erst jetzt aus Traum-Illusionen erwacht, sinkt der Prinz schreiend zu Boden, zwei Offiziere schleppen ihn weg und stellen den so gemachten Helden in den Rahmen eines Denkmals, das wie ein Sarkophag auf die Bühne gebracht wurde. Der musikalische Rahmen einer elektronisch verfremdeten Toncollage aus Schlachtgeräuschen und Musikfetzen vom preußischen Präsentiermarsch bis Lili Marleen unterstrich die Absicht der Demontage eines Mythos.
Demontiert wurden im TIP auch Tabus bei der Betrachtung von DDR-Wirklichkeit. Im Juni 1988 hatte hier ein Stück Premiere, das ein Jahr zuvor in der Volksbühne noch der Zensur zum Opfer gefallen war. Freiheitsberaubung basierte auf einem kurzen Text von Günter de Bruyn, den Ulrich Plenzdorf zu einem Monolog satirisch zuspitzte. Festgesetzt in einem Polizeirevier, erzählt Anita Paschke (Barbare Dittus), Mutter mit drei Kindern, wie ihr die Männer immer wieder weggelaufen sind, weil´s keiner in ihrem Dreckloch im Hinterhaus, zwei Zimmer, "mindestens fünf Ratten", Toilette im Treppenhaus, defekte Wasserleitung, aushielt. Ihren letzten Freund hat Anita jetzt einfach dort eingesperrt, nicht weil sie den nach Berlin versetzten Betriebsdirektor unbedingt behalten möchte, sondern weil er ihr eine neue Wohnung versprochen hatte, davon aber zuletzt nichts mehr wissen will. Denn jetzt kann er seine eigene Komfortwohnung beziehen und erwartet dazu die Familie aus Leipzig.
Die Paschke überlegt, wie sie ihrer vom Wohnungsamt immer wieder abgewiesenen Forderung nach einer menschenwürdigen Bleibe Nachdruck verleihen könnte. Vielleicht indem sie das nächste Mal nicht mehr wählen gehe. Aber - so verwirft sie den Gedanken gleich wieder - : "Ich kenne ´ne Menge Leute, die nicht wählen geh´n, und trotzdem wird als Ergebnis immer 99 Prozent und ´n paar Zerhackte gemeldet." Neben solchen kabarettistischen Pointen hatte Plenzdorf in den Monolog ein paar Lieder eingebaut, in denen er auch Schönfärberei in den Medien aufs Korn nahm: "Bei uns gibt´s keine Gewalt, keinen Raub, keine Drogen, kein Aids. Allen geht´s gut und keiner geht baden - ich habe langsam den Verdacht: die Nachrichten sind nur für den Westen gemacht."
Vom Klimawandel auf östlichen Bühnen nahm der Westen kaum Kenntnis, und die letzte herausragende TIP-Inszenierung im April 1989 fand auch in Ostberlin nicht die ihr zukommende Würdigung. Regie bei der endlich genehmigten DDR-Erstaufführung des sieben Jahre zuvor in Bochum aus der Taufe gehobenen Heiner-Müller-Stücks Quartett führte Bernd Peschke, der zuvor nur Insidern durch drei provokante Inszenierungen in der DDR-Provinz aufgefallen war. Müllers Version von Laclos´ Briefroman von 1782 Gefährliche Liebschaften über die erotischen Obsessionen der Marquise de Merteuil und des Vicomte de Valmont interpretierte er als uraltes Spiel von Liebe und Tod mitten in der Gegenwart unseres Medienzeitalters. Auf vier Fernsehmonitoren flimmerte televisionäre Alltagskost, eine spiegelverkleidete Säule bot beiden Sexomanen Gelegenheit zu narzisstischer Selbstbetrachtung. Musik war ein wesentliches Element der Inszenierung: Jazzvocals und große Opernarien als Ausdruck von Sehnsucht nach Liebe, die es nur noch vermittelt in trivialen Schlagern oder Kunstprodukten des 19. Jahrhunderts gibt.
In der Realität ist sie reduziert zum Zeitvertreib einer gelangweilten Gesellschaft, vorexerziert von deren beiden Exponenten in Sado-Maso-Spielen, Masturbation, Rollen- und Geschlechtertausch, der sich zuletzt auch im transvestitischen Kostümwechsel manifestiert. Spielerisch auch der Umgang mit Müllers metaphernreicher Sprache: mal im Singsang, mal monoton oder beiläufig, gelegentlich durchsetzt mit heutigen Alltagsformeln. Manfred Ernst, schlaksig in legerem Straßenanzug, Zigarette im Mundwinkel, gab den Valmont erst als coolen Zuhälter, dann als verletzlich Todessüchtigen. Vera Oelschlegel als Merteuil, verführerisch schwarz strapskostümiert, war nicht die alternde eiskalte Intrigantin, sondern eine urweibliche Lulu, die sich mit ihren Waffen gegen die Unterdrückung durch den Mann zur Wehr setzt und zuletzt zu Wagners Isoldes Liebestod dem Sterben des durch ihren Gifttrank zu Tode gebrachten Valmont zuschaut.
Ein Teil des Premierenpublikums missverstand das im ungewohnten Gewande tabufreien Schocktheaters daherkommende vielschichtige Menschheitsspiel - Hymnus auf Sexus, Lust und Leben, Totentanz und Trauerarbeit zugleich - offensichtlich als pornographische Peepshow und machte sich empört vorzeitig aus dem Staube. Mich hat jenes Quartett im TIP weit mehr fasziniert als des Autors eigene Inszenierung mit Marianne Hoppe 1994 im Berliner Ensemble.
Der Skandal hatte sich schon mit entsprechenden Reaktionen bei der Generalprobe angekündigt, und er setzte sich fort, als Regisseur Bernd Peschke und der Schauspieler Manfred Ernst aus Brandenburg in den Westen gingen. Im allgemeinen Exodus von DDR-Bürgern wäre das ohne die letzte Vorstellung von Quartett am 2. Oktober 1989 kaum aufgefallen: Da las Autor Heiner Müller nach einer dies begründenden Bemerkung über die "in den Wirren der Zeit abhanden" Gekommenen als Ersatz die Rolle des Valmont, während rings um den Palast in Vorbereitung des 40. Jahrestages der DDR die Polizei in Stellung ging. Ein Endspiel.
Zuvor hatte die ZK-Abteilungsleiterin für Kultur Ursula Ragwitz noch einmal Vera Oelschlegel die Leviten gelesen: ihr Spielplan sei "elitär, intellektuell und unangemessen ernst". Eine geplante Peschke-Inszenierung von Müllers Auftrag war schon früher nicht genehmigt worden. Nach dem Fall der Mauer wollte der Regisseur zurückkehren. Im selben November ist er tödlich verunglückt.
Vera Oelschlegels letzte TIP-Inszenierung im Januar 1990, Männerbiografien in der DDR: Ich bin schwul, war dann schon kein Tabubruch mehr. Die ihr zugrundeliegenden Interviews hatte der Autor Jürgen Lemke bereits als Buch veröffentlicht, und im Kino lief gerade mit großem Erfolg Heiner Carows Film Coming out. Nach fast 4.000 Vorstellungen seit 1976 fand am 21. März 1990 die letzte statt. Noch einmal stand Vera Oelschlegel, nachdem sie bereits ihren Vertrag als Intendantin gekündigt hatte, mit ihrem Brecht-Programm Grüner Schnaps und roter Mohn auf der Bühne: "Ich weiß ja nicht, ob Ihnen so was grad gefällt, doch es war das Schönste auf der Welt ..."
Während die Ostalgiewelle Popstars und Sportler der untergegangenen DDR auf dem Bildschirm wiederauferstehen ließ, ist das TIP vergessen und seine einstige Wirkungsstätte wird demnächst von Baggern plattgemacht. Aber was Heiner Müller im März 1990 zu seiner Hamlet-Inszenierung im Deutschen Theater sagte, sollte auch für das TIP gelten: "So schlecht war die DDR nun auch wieder nicht, dass sie nicht eine anständige Beerdigung verdient hätte."
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