Jahrzehntelange Festivalbesuche evozieren Nostalgie. In Moskau erinnere ich mich des Hotels Rossija als Festivalzentrum, das nicht nur allen Gästen als Unterkunft diente, sondern auch wegesparend das Festivalkino einschloss. Kürzlich verfügte der Bürgermeister der russischen Hauptstadt den Abriss des 1967 am Ufer der Moskwa unweit des Kreml gebauten riesigen Gebäudekomplexes. In San Sebastian trauerte ich jetzt dem früher als Festivalkino dienenden schönen, alten Teatro Victoria Eugenia nach. Der Bau, eine Mischung aus Klassizismus, Jugendstil und stalinistischer Zuckerbäcker-Architektur, wird gerade im Innern restauriert. Seinerzeit passierten dort Besucher der allabendlichen Galavorstellungen jeweils zu den Klängen baskischer Folklore ein Spalier von Jungen und Mädchen in traditionellen Nationalkostümen. Als Kontrast zu solch pittoreskem Festivalrahmen gab es allerdings auch mal eine Bombendrohung der ETA, und bei einer Straßenschlacht zwischen Polizei und baskischen Jugendlichen pfiffen mir einst Gummigeschosse um die Ohren.
Diesmal demonstrierten nur friedliche ETA-Anhänger mit Fotos von Häftlingen, und an Häuserwänden mahnten Plakate "Tourist remember: You are not in Spain nor in France - you are in the Basque country". Am Casa Consistorial konterte ein Spruchband "Nein zur ETA - Menschenrechte und ein friedliches Zusammenleben". Zweisprachig, baskisch und spanisch, wie alles hier. Bomben explodierten nur noch auf der Festivalleinwand im Kursaal, einem hässlichen Klotz mit dem Charme einer Bahnhofshalle, der seit fünf Jahren an der Mündung des Urumea in die aufgepeitschten Wogen des Atlantiks ragt.
An einen Bombenanschlag radikaler IRA-Mitglieder, die damit 1998 den Friedensprozess in Nordirland stören wollten, erinnerte der Film Omagh von Pete Travis, für den Paul Greenglass, der mit Bloody Sunday als Regisseur 2002 den Goldenen Bären erhalten hatte, den Preis für das beste Drehbuch gewann. Erneute Verhandlungen der Konfliktparteien auf Regierungsebene verleihen dem Film zusätzlich aktuelle Bedeutung. Fanatismus und Religionsmissbrauch sind heute zudem in anderen Regionen permanente Brandstifter. Auch frühere Bombenattentate in Spanien und Argentinien lieferten Filmthemen, wie überhaupt das Festival eine starke politische Note aufwies.
Goran Paskaljevic zeigte in seinem mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichneten Film San Zimske Noci die Auswirkungen der Kriege in Bosnien und Serbien auf menschliche Schicksale, wobei er die Figur eines autistischen Mädchens auch als Metapher für den Autismus der serbischen Gesellschaft verstanden wissen wollte. Kriegsfolgen in Gestalt eines traumatisierten Afghanistan-Heimkehrers ebenso in dem dänischen Melodram Brothers. Der Erstlingsfilm von Fanta Regina Nacro aus Burkina Faso Le Nuit de la Verité behandelte die Schwierigkeiten der Aussöhnung nach einem fiktiven ethnischen Bürgerkrieg in Afrika.
Eindeutig verdienter Gewinner der Goldenen Muschel wurde der Iraner Babman Ghobadi mit Turtles can fly. Im Mittelpunkt stehen hier Kinder eines kurdischen Flüchtlingslagers an der irakisch-iranischen Grenze kurz vor der US-amerikanischen Invasion. Einige von ihnen haben nur noch Armstümpfe oder ein Bein, Opfer von Minen, die sie trotzdem auf Wiesen weiterhin suchen, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Ein authentisches Bild von den wehrlosen Leidtragenden eines Krieges, von dem die Nachrichten fast täglich nüchtern registrieren, dass sich nach neuen Angriffen der US-Luftwaffe unter den Toten auch Kinder befinden.
Ganz aktuell wirkte Silver City, der einzige Wettbewerbsbeitrag aus den USA. Um den Gouverneursposten in Colorado bewirbt sich der Sohn eines Senators aus steinreicher konservativer Familie. Intellektuell etwas unterbelichtet, weist er auch äußerlich nicht zufällig eine gewisse Ähnlichkeit mit George W. Bush auf. Ausgerechnet während der Aufnahme eines Fernsehspots mit dem Kandidaten an einem See wird dort eine Leiche gefunden. Der hierin das Werk politischer Gegner witternde Wahlkampfmanager beauftragt einen windigen Journalisten mit der Aufklärung des Falles, wobei dieser in einen Sumpf aus Korruption, politischem und wirtschaftlichem Filz gerät und durch die Recherchen zu seinem verlorenen Berufsethos zurückfindet. Aufgedeckt werden die Rolle der angepassten Medien, Umweltvergiftung und Ausbeutung illegaler Arbeitskräfte aus Mexiko, als deren Opfer schließlich auch der Tote im See identifiziert wird. Regisseur John Sayles sprach von einer "patriotischen Pflicht", diesen Film zu drehen, "besonders wenige Monate vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen".
Nach einer weit verbreiteten Meinung muss San Sebastian als im Jahresrhythmus letztes der großen A-Festivals zufrieden sein mit dem, was an Produktionen übrigbleibt. Im Fall des Hauptgewinners hatte es damit sogar Glück, war der Iraner doch von Cannes und Venedig für den Wettbewerb abgelehnt worden. Aber auch sonst machte das Programm nicht den Eindruck von Resteverwertung. Neben dem Wettbewerb mit 16 Filmen aus elf Ländern liefen noch in anderen Sektionen rund einhundert Filme. Seit langem bietet San Sebastian vor allem dem lateinamerikanischen Film ein Forum und leistet hier mit der Reihe Cine en Construction auch Starthilfe, ähnlich anderen Festivals, die Produzenten bei der Partnersuche helfen. Durch einen Preis wurde diesmal die Postproduktion des ersten argentinischen Films über den Falklandkrieg gegen Großbritannien vor 22 Jahren gefördert. Neben Dokumentarfilmen über Pinochet und Allende erbrachte die spanische Dokumentation Rejas en la Memoria von Manuel Palacios einen Beitrag zur Aufarbeitung von Vergangenheit, indem sie zum ersten Mal an Republikaner erinnerte, die Franco nach dem Bürgerkrieg in Konzentrationslager einsperren ließ und zur Zwangsarbeit heranzog.
Mit der Auswahl des einzigen deutschen Beitrags für die Sektion Zabaltegi (deutsch: Offene Zone) verhalf das Festival dem Studenten der Kölner Filmstudenten Rouven Blankenfeld zu der unverhofften Chance, seinen mit nur 4.000 Euro gedrehten ersten Spielfilm einem internationalen Publikum zu präsentieren. In die Hand geschrieben ist ein im doppelten Sinne schwarzes Kammerspiel. In einer betont kirchentreuen Familie fühlt sich die junge Frau mit der Pflege des ungeliebten gelähmten Vaters überfordert und von einem freilich psychologisch überzeichneten neurotischen Ehemann tyrannisiert, bis sie sich sexuell emanzipiert und mit einem letalen Befreiungsschlag den Weg ins Freie bahnt. Ein Talentbeweis.
Filme des Gastgeberlandes gingen bei der Preisvergabe auch zahlreicher Nebenjurys leer aus. Während bei uns die neuere spanische Produktion fast nur durch Pedro Almodóvar bekannt ist, erreichten die 2003 gedrehten 110 Filme in heimischen Kinos immerhin einen Marktanteil von 16 Prozent. Im nächsten Jahr will die sozialistische Regierung die Filmförderung um fast das Doppelte auf 73 Millionen Dollar erhöhen. Vielleicht reüssieren dann spanische Filme auch wieder in San Sebastian und auf anderen internationalen Festivals.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.