Sie sehen selbst! Urteilen Sie selbst!

Nachruf Kurt Maetzigs Filme haben mich nie kalt gelassen, im positiven wie negativen Sinne. Er wird einen Platz in der Filmgeschichte behalten

Zum letzten Mal saß ich Kurt Maetzig 2011 im Filmmuseum Potsdam gegenüber zur Feier seines 100. Geburtstages. Er freute sich über die Collection meiner Jubiläumsartikel und wirkte so frisch wie in den Jahren zuvor, da ich ihn für seine stets druckreif formulierten Stegreifreden bewunderte. Filme hatte er schon lange keine mehr gedreht. Nun erfuhr ich vom Tod des Regisseurs durch eine kurze Meldung im Zürcher Tagesanzeiger, als ich in meinem Locarneser Stammhotel Pestalozzi beim Frühstück saß. Ein Zufall, dass mich die Nachricht während des Filmfestivals im Tessin erreichte, und auch ein Kontrast. Anders als das meiste im diesjährigen Programm haben mich Maetzig-Filme nie kalt gelassen, im positiven wie negativen Sinne. Oft zum Widerspruch herausfordernd, vor allem wenn propagandistische Absichten allzu plakativ, geforderten Dogmen eines Sozialistischen Realismus folgend, die Leinwand beherrschten.

Im Gründungsjahr des Festivals von Locarno gehörte Maetzig 1946 zu den Mitbegründern der Defa und der ersten deutschen Nachkriegswochenschau, dem Augenzeugen, der seine Zuschauer noch ganz demokratisch aufforderte „Sie sehen selbst! Sie hören selbst! Urteilen Sie selbst!“ Sein erster Spielfilm Ehe im Schatten, 1947 in allen vier Berliner Sektoren gleichzeitig uraufgeführt, war sein persönlichster und erfolgreichster. Die authentische Tragödie des Schauspielerehepaars Joachim Gottschalk hatte Maetzig selbst in der eigenen Familie erlebt. Auch seine Eltern lebten in einer „arisch-jüdischen Mischehe“, die Mutter suchte zuletzt den Freitod.

Mit Staudtes Die Mörder sind unter uns war Ehe im Schatten für mich einstigen Konsumenten Goebbels-gesteuerter Ufa-Filme ein „Erweckungserlebnis“ (ich weiß: ein großes pathetisches Wort) und initiierte eine kritisch-empathische Begleitung der gesamten Defa-Entwicklung. Für sie stand in ihren Höhen und Tiefen exemplarisch Kurt Maetzig. Vielleicht sogar weil er keinen unverwechselbaren Stil entwickelte und sich thematisch nicht festlegen ließ. Dabei ging er mit den jeweiligen kulturpolitischen Schwankungen konform. Nach der frühen antifaschistischen Aufklärung (Die Buntkarierten, Rat der Götter) folgte er in der „liberalen“ Phase des „Neuen Kurses“ der Forderung nach Unterhaltung (Vergesst mir meine Traudel nicht, 1957) und erwies sich mit dem ersten SF-Film der Defa Der schweigende Stern (1959) auch einmal als Neuerer. Im zweiteiligen Bauern-Epos Schlösser und Katen (1956) brach er gar mit dem Tabu des 17. Juni.

Nach dem Mauerbau teilte er mit vielen Künstlern die Hoffnung, nun offener mit den Widersprüchen der eigenen Gesellschaft umgehen zu können. Und erlitt die erste Niederlage, von der er sich nicht mehr erholte. Sein justizkritischer Film Das Kaninchen bin ich nach einem bereits verbotenen Roman von Manfred Bieler wurde zum Hauptangriffsziel des berüchtigten 11. SED-ZK-Plenums im Dezember 1965 und verschwand mit anderen Defa-Produktionen bis 1990 in den Archiven. Sein wichtigstes Anliegen galt danach der Förderung des Nachwuchses. Ich lernte ihn in 1988 auf einem Seminar des DDR-Filmclubs in Weimar kennen und erlebte ihn als Regisseur, der seinem Werk wie selten einer selbstkritisch gegenüberstand.

Umstritten und im Westen vielfach ignoriert, wird Kurt Maetzig einen Platz in der Filmgeschichte behalten, ein Repräsentant einer sehr deutschen Zeitgeschichte, ein engagierter Intellektueller, wie es sie heute in seiner Branche kaum noch gibt.

Heinz Kersten ist der einzig noch aktive Filmkritiker, der den Beginn der DEFA schreibend erlebt hat

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