Ein Schauspieler habe das Glück, mehrere Leben zu besitzen, indem er viele Rollen spielen kann, sagte Erwin Geschonneck einmal. Über hundert Rollen hat er auf der Bühne und vor der Kamera verkörpert und jetzt ein hundertjähriges Leben hinter sich, das mehr als einmal in Gefahr war. Als am 3. Mai 1945 in der Lübecker Bucht nach einem Bombardement das Schiff Cap Arcona mit 4.600 KZ-Häftlingen an Bord sank, gehörte Geschonneck zu den 350 Überlebenden. Er konnte von vorn beginnen.
Am 27. Dezember 1906 in dem ostpreußischen Dorf Bartenstein zur Welt gekommen, verbrachte der Sohn eines Flickschusters seine Jugend in der Berliner Ackerstraße. Zu seinen ersten großen Theatereindrücken gehörte die Dreigroschenoper. Mit den Songs von Brecht und Weill, heimlich vorgetragen, half Geschonneck später seinen Mitgefangenen im KZ Sachsenhausen über einen trüben Weihnachtsabend 1939. 1959 stand er dann als Macheath auf der Bühne: unter Benno Bessons Regie in Rostock.
Erste Schauspielererfahrungen hatte er Ende der zwanziger Jahre in Berlin gesammelt: in linken Agitprop-Gruppen. Als Statist spielte er in Slatan Dudows Kuhle Wampe seine erste Filmrolle. Ende 1933 ging der junge Kommunist mit einer jüdischen Theatergruppe nach Polen; Prag und die Sowjetunion folgten als Stationen seines künstlerischen Exils, in dem ihm auch die bitteren Erfahrungen des Stalinismus nicht erspart blieben: Gleich anderen Emigranten wurde er 1937 ausgewiesen. Schlimmeres folgte: Als Geschonneck aus der von den Nazis besetzten Tschechoslowakei nach Polen zu entkommen suchte, verriet ihn ein Gestapo-Spitzel an die SS: Beginn einer sechsjährigen Leidenszeit in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Dachau und Neuengamme. Mit der Figur des Lagerältesten Kramer in Frank Beyers Verfilmung von Bruno Apitz´s Buchenwaldroman Nackt unter Wölfen (1963) verband sich für dessen Darsteller dann ein Stück eigenen Lebens. Da war Geschonneck schon ein bekannter Schauspieler.
Angefangen hatte seine Nachkriegskarriere an Ida Ehres Hamburger Kammerspielen, aber im Mai 1949 zog es ihn nach Berlin, wo Brecht gerade begonnen hatte, sein Berliner Ensemble aufzubauen. Mit dem Matti im Puntila begann hier Geschonnecks beste Theaterzeit, die leider schon 1955 endete, als er sich ganz für den Film entschied. Die Defa hatte ihn schon vorher entdeckt. Der sich zum Scharfrichter der Nazis hergebende Schlächtermeister Teetjen in Falk Harnacks Das Beil von Wandsbek war 1951 eine der ersten großen Rollen, die er in Babelsberg spielte. Die besten machten ihn zu einem der populärsten Schauspieler in der DDR und auch weit über deren Grenzen hinaus bekannt.
Dabei hat sich Geschonneck in den unterschiedlichsten Fächern bewährt. Er war ein antidogmatischer Parteisekretär in Konrad Wolfs Sonnensucher, ließ seine Vorliebe für komische Rollen dem pfiffigen Arbeiter Kalle zugute kommen in Frank Beyers Karbid und Sauerampfer, einem der wenigen gelungenen Defa-Lustspiele, und er erschütterte als jüdischer Friseur Kowalski in des gleichen Regisseurs Verfilmung von Jurek Beckers Ghetto-Roman Jakob der Lügner, die 1975 auf der Berlinale einen Silbernen Bären errang und für den Oscar nominiert wurde. Als Meister eines Chemiebetriebes, der an seinem letzten Arbeitstag eine Lebensbilanz zieht, forderte er in Roland Gräfs Bankett für Achilles seinen Nachfolger auf, auch mal mit dem Kopf durch die Wand zu stoßen.
Geschonneck selbst scheute sich nie, auch mal unbequem zu sein. "Die Verantwortung des Schauspielers seinem Publikum gegenüber, die Wahrheit zu sagen und sie nicht zu verschleiern, indem er den gesellschaftlichen Widersprüchen und Problemen aus dem Wege geht, ist besonders hoch, wenn es um die Widersprüche und Probleme unserer sozialistischen Wirklichkeit geht", betonte er einmal. Nachdem diese Wirklichkeit genau daran gescheitert war, gab Geschonneck nicht auf. Der letzte Film, in dem er 1995 unter der Regie seines Sohnes Matti vor der Kamera stand, Matulla und Busch, thematisierte Probleme des nun existierenden realen Kapitalismus. Mit Gastauftritten auf der Bühne des Berliner Ensembles, Hörspielrollen und Solo-Abenden trotzte er noch dem Alter, erlebte die Genugtuung der Verleihung eines Deutschen Filmpreises für sein Gesamtwerk 1993 und wurde 2004 Ehrenmitglied der Deutschen Filmakademie.
"Wissen, politische und soziale Erfahrung allein sind noch kein Garantieschein für künstlerische Meisterschaft", gab Geschonneck einst in der DDR zu bedenken. In seiner Persönlichkeit ist all dies vereint: ein Schauspieler, wie es ihn so nicht mehr gibt, und mehr als "nur" ein Schauspieler.
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