Am 17. Mai wäre die DEFA 60 geworden, hätte man sie nicht mit 46 abgewickelt. Wie auch bei anderen intakten DDR-Betrieben wollten die westdeutschen "Brüder" keine Konkurrenz und verzichteten lieber auf die Chance, ein Studio mit hochqualifizierten Mitarbeitern auf traditionsreichem Boden als gemeinsamen Produktionsstandort für einen international durchsetzungsfähigen deutschen Film zu nutzen. Auch heute denken die meisten im Westen bei dem Namen Babelsberg an die UFA, obwohl die hier nur 27 Jahre zu Hause war, fast die Hälfte davon unter braunem Vorzeichen. Die ehrenvollere 46jährige Geschichte der DEFA scheint ausgelöscht.
Doch dieser Schein trügt. Dass sie heute noch lebendig bleibt, ist der DEFA-Stiftung zu verdanken. Sie sorgt durch die Unterstützung von Retrospektiven - die publizitätsträchtigste fand im vergangenen Herbst im New Yorker Museum of Modern Art statt - und Publikationen dafür, dass die DEFA und ihre Filme nicht in Vergessenheit geraten. Über Aktivitäten der Stiftung kann man Ausführliches lesen im letzten von ihr herausgegebenen Jahrbuch. Leider ist es in der bisherigen aufwendig repräsentativen Form tatsächlich das letzte, und wie um den Abschied nach sechs Ausgaben besonders schwer zu machen, vereint es wiederum eine Fülle von interessanten und niveauvollen Beiträgen zum Thema (nicht nur DEFA-) Film, die man so konzentriert anderswo vergeblich suchen würde.
Neben Historischem steht Aktuelles. Sonja M. Schulz wirft einen Blick auf Die harmonische Leinwand und entdeckt dort "Filmische Stereotypen bei der Darstellung von Nationalsozialismus und Holocaust in aktuellen deutschen Produktionen." Sie findet in deren Erzählungen über das Dritte Reich "Versöhnungsphantasien". Meist sind es Melodramen mit Liebesgeschichten, die dem Faschismus vor allem "Verhinderung des privaten Glücks" anlasten. Als Beispiele werden analysiert Bloody Sunday, Comedian Harmonists, Aimee und Jaguar und Marlene, die sich alle "dramaturgisch und ästhetisch an Konventionen orientieren".
"Das Bild der DDR im gesamtdeutschen Kino" ist für Matthias Dell gekennzeichnet von einem "DEFA-Blick", einem "West-Blick" und einem "Pop-Blick". Letzteren sieht der Autor in Leander Haussmanns Sonnenallee und Wolfgang Beckers Good Bye, Lenin. Der erstaunlichen internationalen Karriere dieses Films ist ein eigener Beitrag von Michael Töteberg gewidmet. Ein dem später realisierten Drehbuch ganz ähnliches Exposé stammte demnach von einem jungen Filmstudenten, der damit allerdings 1992 beim WDR keine Gegenliebe fand. Elf Jahre später reagierte die Kritik auf die Uraufführung von Beckers Film bei der Berlinale auch erst einmal wenig wohlwollend. Mit der danach erreichten Rekordzahl von 6,5 Millionen Besuchern in Deutschland hatte niemand gerechnet, schon gar nicht mit dem Verkauf in 64 Länder. In Großbritannien erzielte Good Bye, Lenin als erster deutscher Film ein Einspielergebnis von mehr als einer Million Pfund. Selbst im cinéphilen Frankreich lief der Film über 20 Wochen, erreichte fast 1,5 Millionen Zuschauer und fand einhellige Anerkennung bei der Kritik. Im Nouvel Observateur lobte Jorge Semprun seine "subtile Komplexität und historische Intelligenz". Während man in Russland darin "ein Kapitel der eigenen Biographie" sah, wurde der Film in den USA von den Behörden als "politisch und moralisch bedenklich" eingestuft: Minderjährige unter 17 Jahren durften ihn nur in Begleitung Erwachsener sehen. Das konnte allerdings nicht verhindern, dass er Platz sechs in der Liste der erfolgreichsten deutschen Filme aller Zeiten in den USA einnahm.
In einer profunden historischen Analyse vermittelt Hans-Joachim Schlegel einen Eindruck vom wechselhaften Bild des Deutschen im russischen Film, und die gegenseitigen "deutsch-deutschen Feindbilder" untersucht Matthias Steinle anhand von Dokumentarfilmen der fünfziger Jahre. Leider fehlt darin Walter Heynowskis polemische Dokumentation Brüder und Schwestern, obwohl (oder weil?) sie noch heute akutell wirkt. Fast prophetisch prognostiziert sie eingangs, dass die westdeutschen "Brüder und Schwestern" Thyssen, Zitzewitz et cetera ihr ehemaliges Eigentum in der DDR zurückhaben wollen, um im zweiten Teil mit dem Besuch einer Arbeiterdelegation aus der BRD in der DDR wahre "Brüder und Schwestern" vorzuführen.
An die deutsch-deutsche Biographie von Thomas Brasch und dessen weder in Ost noch West genügend gewürdigten Filme erinnert Claus Löser. Die anfängliche Aufmerksamkeit, die der Autor des Buches Vor den Vätern sterben die Söhne und verschiedener Theaterstücke nach seiner Übersiedlung in den Westen fand, ermöglichte ihm zwar zwischen 1981 und 1987 die Realisierung dreier Filme (Engel aus Eisen, Domino, Der Passagier - Welcome in Germany), aber trotz Verleihung des Kleist-Preises 1987 geriet er bis zu seinem Tode 2001 mit erst 56 Jahren rasch in Vergessenheit.
Artikel von Hochschulprofessoren aus den USA, Großbritannien und Japan belegen, dass dort das Interesse an der DEFA seit der "Wende" gewachsen ist beziehungsweise überhaupt erst einmal geweckt wurde. Dafür ist es weit unvoreingenommener als zum Teil auf westdeutscher Seite. Barton Byg macht die an einigen Negativbeispielen immer noch anzutreffende Ignoranz gegenüber DDR-Beiträgen zur Filmgeschichte deutlich. Zahlreiche Konferenzen an US-Universitäten, die sich mit DEFA-Themen beschäftigen, können sich auf die von ihm vor 15 Jahren gegründete DEFA-Library an der University of Massachusetts Amhurst stützen, die mit ihrem Bestand an Kopien, Kassetten und DVDs auch sonst viel für DEFA-Präsenz in den USA tut.
In Großbritannien begann die einschlägige Forschung zwar erst zum 50. Jahrestag der DEFA-Gründung mit einer ersten Konferenz an der Universität Reading, weist aber inzwischen eine beeindruckende Liste von 62 wissenschaftlichen Veröffentlichungen auf. Auch in Japan gab es 2000 ein DEFA-Symposion. Für eine Kontinuität der Beschäftigung sorgt eine DEFA-Medien-Werkstatt an der Hosei-Universität in Tokio, der schon die japanische Untertitelung von Jakob der Lügner und Coming Out zu danken ist.
Das im letzten Jahrbuch von der DEFA-Stiftung gegebene Versprechen, die Tradition der von Ralf Schenk, Erika Richter und zuletzt auch Claus Löser redigierten Bände in der Schriftenreihe der DEFA-Stiftung fortzusetzen, wird genau zum 60. DEFA-Jubiläum mit der bisher umfangreichsten Veröffentlichung dieser Schriftenreihe eingelöst: Spur der Filme. Äußerten sich in den Jahrbüchern oft gerade Nachgeborene über einen zeitlich abgeschlossenen Forschungsgegenstand, so versammelt diese jüngste Publikation Aussagen von Zeitzeugen über die DEFA (so auch der Untertitel). Ingrid Poss und Peter Warnecke haben sie aus Interviews und Gesprächen entnommen, die das Filmmuseum Potsdam, die DEFA-Stiftung und Zeitzeugen-TV zwischen 1992 und 2005 mit den Zitierten geführt haben.
Den nach Jahrzehnten gegliederten Kapiteln ist jeweils eine Einleitung vorangestellt, die den gesellschaftlichen und kulturpolitischen Hintergrund skizziert, vor dem die erwähnten Filme entstanden sind. Natürlich war es unmöglich, auch nur einen Bruchteil der über 700 Spielfilme und 540 Fernsehfilme zu berücksichtigen, die zwischen 1946 und 1992 in Babelsberg entstanden - Dokumentarfilme blieben ausgespart. Die Herausgeber beschränkten sich auf Typisches und waren bei der Anzahl von immerhin über 100 Filmen wohl auch auf die dazu vorhandenen Erinnerungen Beteiligter angewiesen.
Was hier Regisseure, Kameramänner, Schauspieler, Produktionsleiter und Dramaturgen zu Protokoll gaben, vermittelt eine spannend zu lesende, in der Beurteilung von verantwortlichen Leitern auch manchmal widersprüchliche, Innenansicht der DEFA. Sie ist geeignet, das sich in allen Höhen und Tiefen von außen ergebende Bild eines Studios mit vor der Abwicklung 2.235 Angestellten zu vervollkommnen und gelegentlich auch zurecht zu rücken. Bei den Antworten auf die Frage "Was war die DEFA?" tauchen trotz aller auch erinnerten Enttäuschungen mehrfach die Begriffe "Heimat" und "Familie" auf.
Viele "Familienangehörige" leben heute nicht mehr. Erst im vergangenen Jahr starb der Regisseur Lothar Warneke (Einer trage des anderen Last), an den mit von Erika Richter aufgezeichneten Gesprächen noch der fünfte Band der Schriftenreihe der DEFA-Stiftung erinnert. (Lothar Warneke: Die Schönheit dieser Welt). Aber wenn mit dem 96-jährigen Karl Hans Bergmann und dem 95-jährigen Kurt Maetzig zwei DEFA-Mitbegründer auf der "Familienfeier" zum 60. Jubiläum am 17. Mai in Babelsberg dabei sein werden, symbolisiert dies so etwas wie die Inkarnation des Weiterlebens einer Institution, die ein wesentliches Kapitel deutscher Filmgeschichte geschrieben hat.
apropos Film 2005. Das Jahrbuch der DEFA-Stiftung. Hrsg. von Ralf Schenk, Erika Richter und Claus Löser. Bertz + Fischer, Berlin 2005. 328 S., 19,90 EUR
Ingrid Poss/Peter Warnecke (Hrsg.): Spur der Filme. Ch. Links, Berlin 2006. 578 S., 24,90 EUR
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