Erosion der Basis

WENIGER MITGLIEDER TROTZ ERFOLGREICHER TARIFRUNDE Die IG Metall kämpft gegen mächtige Trends und die Konkurrenz anderer Gewerkschaften

Eine eherne Grundregel funktioniert nicht mehr. Bislang galt, daß die IG Metall nach einer erfolgreichen Tarifrunde automatisch mehr Neueintritte zu verzeichnen hat als zuvor. Dieses Jahr ist alles anders. Zwischen dem 31. Dezember 1998 und dem 31. Mai dieses Jahres gaben 39.811 Metallerinnen und Metaller ihr Mitgliedsbuch zurück. Das bis zum Jahres ende vorhergesagte Minus von zwei Prozent weniger Mitgliedern ist damit schon zum Sommeranfang erreicht. Daß der seit längerer Zeit anhaltende Abwärtstrend bei den Mitgliederzahlen noch nicht einmal nach einer erfolgreichen Tarifrunde gestoppt werden konnte, macht insbesondere die lokalen Gewerkschaftsfunktionäre ratlos: »Es ist einfach nicht zu begreifen«, klagt Siglinde Merbitz, Erste Bevollmächtigte der IG Metall in Leipzig, »die IG Metall ist eine gesuchte Gesprächspartnerin, hat hohes Ansehen in der Region - aber in Mitgliederzuwachs schlägt sich das nicht nieder. Die Beschäftigten wollen offensichtlich aus Angst um ihren Arbeitsplatz beim Arbeitgeber nicht anecken.«

Auch Armin Gross, Erster Bevollmächtigter in Mainz, vermutet: »Die Sorge um den Arbeitsplatz überlagert oft die Freude über den guten Abschluß.« Der Rückgang der Mitgliederzahlen wird die innergewerkschaftliche Debatte über den richtigen Kurs neu entfachen. Schon jetzt sind sich nicht nur die Metaller uneins darüber, was Gewerkschaft heute (noch) sein soll: politische Gegenmacht oder eine Art ADAC für Arbeitnehmer. Auf jeden Fall hat der Vorstand die Kampagne zur Gewinnung neuer Mitglieder bis zum Jahresende verlängert. Jeder Metaller, der mindestens drei neue Mitglieder wirbt, erhält einen Sachpreis. Wenn sich Metaller zu einem Werbeteam zusammen schließen, können sie die Prämie auch in bar kassieren.

Versorgt werden die Werber mit Tips und Argumenten aus der Frankfurter Zentrale. »Den richtigen Zeitpunkt wählen«, heißt es dort etwa unter Punkt 3 der Handreichung: »Nicht jeder Zeitpunkt und nicht jede Gelegenheit eignet sich für ein Werbegespräch.« Der Werber wird ermahnt: »Gespräch heißt Dialog. Laßt Eure Gesprächspartner ausreden.« Und wenn das heikle Gegenargument kommt, daß die Gewerkschaft Mitgliedsbeiträge in dubiosen Immobiliengeschäften verschwendet habe, dann solle man den Fehler ruhig zugeben und bedauern. Die Werber sollen auf die Vorteile der Gewerkschaftsmitgliedschaft verweisen - Rechtsschutz, Freizeitunfallversicherung, die Leistungen bei Streik und Aussperrung.

Vor allem aber sollen zögerliche Kandidaten daran erinnert werden, daß Gewerkschaften vom »Idealismus und Engagement ihrer Mitglieder« leben. Doch gerade Letzteres überzeugt offensichtlich immer weniger Arbeitnehmer. »Wer sich überhaupt für Gewerkschaften interessiert, ist schon Mitglied bei uns«, mutmaßt Udo Klitzke, Erster Bevollmächtigter der IGM in Braunschweig, »die anderen sind zum Teil hartnäckig gewerkschaftsfern«. Das größte Reservoir sieht Klitzke bei den Angestellten, »aber um sie zu gewinnen, reicht ein akzeptables Tarifergebnis nicht aus. Wir müssen wieder fachlich versierte Ansprechpartner für sie sein. Da hat die IG Metall in den letzten Jahren viel Kompetenz aus der Hand gegeben; ich hoffe, wir können das aufholen«.

Nicht nur bei den Angestellten, auch bei den kleinen Betrieben hat es die Gewerkschaft schwer, Fuß zu fassen. Um dort mehr Mitglieder zu werben, hat die IGM beschlossen, zusätzliche Sekretäre einzustellen. Doch viele dieser Klein- und Kleinstbetriebe sind nicht tarifgebunden, so daß die Motivation, in die Gewerkschaft einzutreten, gering ist. Die Fluchtbewegung von Firmen aus der Tarifbindung, der Abbau von Arbeitsplätzen in den traditionellen Eisen- und Stahlindustrien, das »Outsourcing«, also das Auslagern von Betriebsteilen, und die Umstrukturierung von Produktionsfirmen zu Dienstleistungsunternehmen sind gewichtige Gründe dafür, daß die Metallgewerkschaft eine schleichende Erosion ihrer Basis hinnehmen muß.

Zwar hat die IG Metall durch Fusionen mit kleineren Gewerkschaften wie der Gewerkschaft Textil und Bekleidung und kürzlich erst der Gewerkschaft Holz und Kunststoff eine gewisse »Blutzufuhr« erhalten, doch die einstmals größte Einzelgewerkschaft der Welt wird bald nicht einmal mehr in Deutschland die Nummer eins sein. Wenn sich DAG, HBV, IG Medien, Postgewerkschaft und die ÖTV demnächst zur Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di zusammenschließen, fällt die IG Metall mit »nur« noch 2,7 Millionen Mitgliedern auf den zweiten Platz zurück. »Unsere Ausnahmestellung können wir trotzdem behalten«, tröstet IG Metall-Vorsitzender Klaus Zwickel vorsorglich seine Kollegen, »denn die Durchsetzungsmacht der IG Metall beruhte nie auf der bloßen Zahl, sondern immer zuerst auf dem Engagement unserer Mitglieder.« Die 3,2 Millionen Mitglieder starke neue Dienstleistungsgewerkschaft macht der IG Metall jedoch ganz hautnah Probleme. Sie könnte in den Revieren der IG Metall fischen, die sich gerade darum bemüht, die Informationstechnologie-Branche zu organisieren. Doch dort sind auch DAG und Postgewerkschaft aktiv. IG-Metall-Chef Zwickel hat die Fusionierenden bereits ermahnt, »ein Höchstmaß an Sensibilität« zu wahren. DAG-Funktionäre, die im Organisationsbereich der IG Metall tätig sind, müßten »mittelfristig« in die IG Metall integriert werden. Denn der Mitgliederschwund hat auch eine bedeutsame finanzielle Seite. Im soeben bekanntgegebenen Kassenbericht der IG Metall klafft trotz aller Sparmaßnahmen ein Loch von 43 Millionen Mark. Hauptkassierer Bertin Eichler ist indes schon zufrieden, daß dieses Defizit das geringste seit 1995 ist. Doch wenn der negative Trend bei den Mitgliedsbeiträgen nicht gestoppt wird, muß die IG Metall wieder ans Eingemachte greifen. 123 Millionen Mark Rückstellungen sind zwar vorhanden. Doch das meiste davon zählt zur geheimnisumwitterten Streikkasse und darf nur zu diesem Zweck eingesetzt werden.

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