Rettkowskis Ruf nach Ordnung hallt selbst nach seinem Tod nach. Da ist das Ungeheuerliche längst passiert: drei Tote im Duisburger Gericht. Warum erschoss Rettkowski, Beamter im Ruhestand, einen Angeklagten, dessen Verteidiger und dann sich selbst? „Rettkowski“, gibt Spindler, sein alter Kollege, zu Protokoll, „dem waren Gesetze alles.“ Beim TÜV, wo beide über Jahre zusammenarbeiteten, sei dem Rettkowski Ordnung immer alles gewesen. Wer dem dumm kam, der konnte sich auf eine Beleidigungs- oder Bestechungsklage gefasst machen. Deshalb konnte ihn keiner leiden, die Kollegen nicht und auch die Gebrauchtwagenhändler nicht. Und dann sinniert Spindler: „Im Grunde genommen war der Hubert aber ein guter Mensch.“ Und nach der Pensionierung, räumt Rettkowskis Tocher ein, sollte ja alles anders werden. Reisen wollten die Eltern. Nach Schweden und Sylt sollte es gehen und auf Pilgerfahrt nach Lourdes. Doch statt des schönen Lebens stirbt Rettkowskis Frau und der wird Stammgast im Duisburger Gericht. „Es wohnten zwei Seelen in seiner Brust“, erinnert sich Anja, und „ob Papa gerade eine strenge oder liebe Phase hatte wusste niemand.“ So recht gekannt hat ihn keiner, den Hubert Rettkowski, weder die Tochter noch Nachbarn und Kollegen. Das zeigen auch die Vernehmungsprotokolle.
Arbeitslos im Boss-Hemd
In Jochen Rauschs neuem Erzählband Rache brodelt es wieder mächtig unter der dünnen bürgerlichen Patina brüchiger Ordnung aus Kontrolle und Gesetzen. Deeskalationskurse für den „Fall der Fälle“ versagten im Fall Martin Brebeck. An diesem einen verhängnisvollen Januarmorgen packt ihn diese „Lava-Wut“. Wären nicht die Kollegen vom Jobcenter Köln-Mitte gewesen, der lang gediente Fallmanager Brebeck hätte seinen Kunden Koch umgebracht; Koch, diesen Langzeitarbeitslosen im Boss-Hemd und mit den feinen Lederschuhen. Koch überlebt und Brebecks bürgerliche Existenz ist dahin.
Reue? Rauschs Personal, Menschen, die plötzlich und unvermittelt zu Mördern werden können, hat keine Schuldgefühle. An die Stelle von Reue tritt Genugtuung. „Gott“, sagt Brebeck, den habe er im Amt nicht gesehen. Warum auch? Brebeck hat seine Gesetze. Wenn die gegen das Zuviel an Demütigungen – vom Chef, der Ehefrau, den dreisten Kunden – versagen und schließlich die Wut herausbricht, bringt nur noch Rache den Befreiungsschlag, gibt es nach dem Töten „Kaffee und Kuchen“ für Brebeck aus dem Rheinland und Tiramisu für den ostdeutschen Verlierer aus Pommern.
Der Himmel ist leer und die Revolution eine Farce. Gero, der Polizistensohn aus dem schwäbischen Waiblingen, nennt sich „Che“. Wenn er allerdings mit seiner Freundin nachts in Kreuzberg „auf Streife“ geht, um dicke „Kapitalistenautos“ abzufackeln, geht auch einmal ein geklauter Porsche mit einem Migrantenpärchen in Flammen auf.
Wer den Großen mit Gesetzen beikommen will, der wird überfahren. Er endet tragisch-komisch und wie Georg sogar im Koma. Als der der versnobten Falschparkerin aus der Nachbarschaft einmal mehr auflauert, um sie endlich „dranzukriegen“, überfährt die ihn.
Ob wohlstandsverwarloste Söhne von Polizisten, Abkömmlinge von Kettensägenfabrikanten und Architekten, Beamte, Steueranwältinnen und Abgehängte – was sie alle in Rache eint, ist der Drang nach dem einen Befreiungsschlag. Endlich soll Schluss sein mit all den Frustrationen, Zurückweisungen, der Vergeblichkeit. Erst in der Vergeltung erfahren die Rächer sich wieder als selbstbestimmt Handelnde. Das ist verstörend, auch weil die ungeheuerliche Rache die Ordnung in einer Weise durchbricht, dass es keine abschließende Erklärung mehr dafür gibt. Fatum statt Theorien? Was hilft sind Bilder. Bilder, wie Schnappschüsse, als Gegenwehr wider das unvorhersehbare Ungeheuer in den Menschen, das jederzeit und überall mit archaischer Wucht hervorbrechen kann, aufblitzend und gebändigt in elf perfekt erzählten Rachegeschichten. Kein Wort ist zu viel, jeder Satz sitzt. Sein Material – TV-Soaps, Vorabendkrimis, deutscher Alltag.
Rache ist überall, von Pommern bis Florida, von den Rändern bis zu den Speerspitzen der deutschen Gesellschaft. Rausch setzt auf atmosphärisch dichte Milieustudien: Unheimlich wie im Fall des geschundenen und missbrauchten Obdachlosen, trashig wie im Fall der abgehalfterten Industriellendynastie und hinterlistig wie im Fall des Lokalreporters aus Wuppertal. Der verdankt seine Misere, unter „Ehrenmörder“ geraten zu sein, seinem neuen Chef, einem ehemaligen Bild-Volontär. „Wir brauchen exklusive Geschichten, hatte Hösel gesagt: „Mord und Totschlag, Skandale, Storys, die dem Leser ans Herz gehen.“ Dem Journalisten Jochen Rausch gelingt das in seinen elf Rache-Storys, unprätentiös und hart die Realität ausleuchtend. Rausch hat das Zeug zum Kult.
Info
Rache Jochen Rausch Berlin Verlag 2015, 288 S. , 19,99 €
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