Fast einer von uns

Neunauge Auch in Till Raethers neuem Roman fasziniert der labile Ermittler Danowski
Ausgabe 45/2017

Was passiert, wenn der Geist seinem Besitzer einen üblen Streich spielt? Eine einheitliche Theorie dazu gibt es nicht. Hauptkommissar Adam Danowski soll sich seinen Knacks mit zwölf Jahren geholt haben, als seine Mutter unter ungeklärten Umständen starb. Jahrzehnte später dann sein psychischer und mentaler Zusammenbruch. Die Stimme der toten Mutter wollte Danowski einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Zu viel Stress, zu viele „aversive Erlebnisse“ im Leben wie im Dienst des Kripobeamten? Auf jeden Fall Wahn und Halluzinationen. Im Fall von Adam Danowski gibt es den „langen Arm der alten Chefin“, die schützend die Hand über ihn hält. Und schließlich seine Familie: Zwei Töchter und Ehefrau Leslie sorgen für den nötigen Halt, sind Danowski Ansporn, wieder in die Spur zu kommen.

In Gruppentherapien, bei Meditationen sowie in Gesprächen mit seinem Therapeuten lernt er sich neu auszubalancieren. Sein Dienstherr besteht darauf. Ohne Behandlung wäre er nicht in den Innendienst zur Operativen Fallanalyse versetzt worden. Offiziell war Danowski nie weg.

Mental angeschlagene Ermittler haben seit Sherlock Holmes nicht nur Tradition, sondern Karrieren in Kriminalgeschichten gemacht. Doch Mord und Macke als psychologischer Aufhänger sind dem aus SZMagazin und Brigitte bekannten Journalisten und Kolumnisten Till Raether zu wenig.

Das Arschloch aus München

Mit Adam Danowski lässt Raether einen „anderen Typus“ von Kommissar die Krimibühne betreten; jemand mit nachvollziehbaren psychischen Problemen. Im Gegensatz zu einem nicht selten mit seelischen Malästen und Marotten ausgestatteten und dabei von Autoren schmählich im Stich gelassenen Kripo-Personal lässt Raether seine Leserschaft an Danowskis Salutogenese teilhaben. Und wie im richtigen Leben gelingt dies seinem Kommissar nur in kleinen, rührend-komisch verlaufenden Schritten, die Danowski obendrein eine gehörige Portion Selbstironie abverlangen. Brauchte der in einem seiner früheren Fälle mal Grünpflanzen als Anker zur Stabilisierung seiner labilen Disposition, versucht er es in Neunauge nun mit einem Glückstagebuch. Therapeutisch gilt das in der Verhaltenstherapie ja als Fortschritt, weil Danowskis Blick weg von negativen hin zu positiven Erlebnissen im Alltag gelenkt werden soll. Wie er gegen einen Rückfall angeht, bereitet Vergnügen: „Finzi hat gesagt, dass wir Freunde sind“. Was er wiederum durchstreicht. Man möchte gerne weiterlesen, was er noch so im „Glückstagebuch“ notiert. Ob es denn hilft, „sich neu zu erfinden“? Danowski hat leise Zweifel, vielleicht weil Lakonie sein zweiter Name ist, und einer wie er nicht frei von Spott sein kann.

Schließlich klappt er die Kladde zu. Die Realität hat ihn wieder, als Hamburg von einer Serie spektakulärer Leichenfunde erschüttert wird. Danowski und seine Kollegen tappen im Dunkeln. Handelt es sich um Ritualmorde? Immerhin weisen die Mumien Bisse von einem seltenen Bachbewohner auf, dem vom Aussterben bedrohten Neunauge; kein Fisch, sondern dessen Vorgänger und damit eines der ältesten Tiere überhaupt. Was bedeutet das?

Man setzt auf die Unterstützung von Deutschlands berühmtestem Profiler. Der Bayer Martin Gaitner soll es richten, „das Arschloch aus München“ mit diesem süffisant ironischen Zug um dem Mund. Der ist verliebt in seine Mobbingopfer-Hypothese, sie passt dem Verfasser populär-kriminalistischer Literatur in Hinblick auf sein neues Sachbuch über Mobbing ins Bild.

Ein zu Schulzeiten traumatisierter Einzeltäter? Den Ansatz hält Danowski intuitiv für falsch, eher für eine Marketingstrategie Gaitners. Jedoch, wegen des Makels seiner psychischen Erkrankung, muss Danowski, unscheinbar und introvertiert im Vergleich mit dem smarten Münchner, bei seinem Vorgesetzten den Kürzeren ziehen. Mit viel Witz schildert hier Raether, wie dem deprimierten Hanseaten das dreiste Imponiergehabe des Bayern mächtig auf die Nerven geht. Lakonisch schreibt er ins Tagebuch: „Das Gute war, dass ich Gaitner keine reingeschlagen habe. Cholerisch bin ich jedenfalls nicht.“

In Danowskis viertem Fall ist diesmal Finzi aktiv mit von der Partie. Raethers Leser kennen den zur Verkehrssicherheit verdonnerten trockenen Alkoholiker bereits. Als dem sein Polizeifahrrad geklaut wird, er sich vor Grundschülern blamiert, hängt dies irgendwie mit dem Fall zusammen. Außerdem Kommissarin Meta Jurkschat. Seltsamerweise schweigt die sich eisern über ihr früheres Verhältnis mit einem der Toten aus, was, neben der interessanten Dreierkonstellation Danowski, Finzi, Jurkschat, zu weiteren Verstrickungen führt. Schließlich kommt die gute alte Polizeiarbeit auf Hochtouren: Tatortanalyse, Befragung von Hausmeistern, Schülern, Lehrern. Welche Rolle spielt ein Szenetreff, der mit seiner auf Koksdealer wartenden Kleineleute-Kundschaft seine beste Zeit hinter sich hat? Das Trio schaut in Abgründe. Raether hat dafür nicht nur Danowskis Störung gründlich recherchiert, sondern ebenso für seinen jüngsten Fall in Schulen, ist in Lüftungsschächte und Kriechkeller gekrochen, diskutierte mit Schülern der Klasse 8h der Gyula-Trebitsch-Schule in Hamburg, wie es im Nachwort heißt.

Marode Schulgebäude, endlos sich hinziehende Bauplanung, über die das Schulpersonal in Pension geht. Schulen, deren Instandsetzungsdringlichkeit sich an der bürgerlichen Klientel in Hamburgs Stadtteilen orientiert, die Ehefrau einer Leiche, die aus Versicherungsgründen ihren Mann nicht für tot erklären ließ, das kleinbürgerliche Milieu von Metas Ex-Lover. Dass die drei bei ihren Alleingängen ohne Waffen unterwegs sind, mag einem unlogisch erscheinen. Raether meint, wichtig sei nicht, „dass ein Mord passiert“. Vielmehr soll „der Leser etwas über den Kommissar herausfinden wollen“. Gleichgültig welchen Fall Raether mit seinem Kommissar erzählt, man bleibt an ihm dran, ist gut unterhalten. Dabei spielt Raether locker mit Klischees. Metas Getue mit ihrem Haar (Ist Danowski etwa ein wenig in sie verliebt?), der Gegensatz Hamburg versus München. Hingegen Danowskis Einordnung der Welt in „Arschlöcher“ und solche, die keine sind, dient nicht nur seiner psychischen Absicherung in unwegsamem Gelände, sie hilft, als das Trio in dem ehemaligen Schullandheim bei Hamburg plötzlich im Dunkeln auf einem frischen Betonfundament steht, unter dem wohl eine Leiche zu vermuten ist.

Info

Neunauge Till Raether Rowohlt 2017, 432 S., 14,95 €

Die Bilder des Spezials

Terje Abusdal lebt und arbeitet in Oslo. Für seine Reihe Slash & Burn erhielt der 1978 im norwegischen Evje geborene Fotograf den renommierten Leica Oskar Barnack Award.

2014 studierte er in Aarhus an der Dänischen Schule für Medien und Journalismus und besuchte anschließend mehrere Meisterklassen. 2015 veröffentlichte er sein erstes Fotobuch Radius 500 Metres. In seinen Arbeiten, die in Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen sind, widmet er sich vor allem den Themen Identität und Migration. Die Reihe Slash & Burn entwickelte sich zu einem Langzeitprojekt. Was bedeuten Tradition und Mystik? Wann gehört man zu einem Land, zu einer Gruppe? In Slash & Burn gelingt Terje Abusdal eine magische Annäherung an die Waldfinnen, eine historische naturverbundende Volksgruppe in Skandinavien. Bei ihnen sei „ganz unabhängig von deinem ethnischen Ursprung – das Kriterium der Zugehörigkeit eindeutig: Man spürt es einfach“. Die Bilder aus Slash & Burn erscheinen 2018 im Kehrer Verlag. Im Internet findet man Zugang zuseinem Werk unter: www.terjeabusdal.com

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