Großbritannien nach Kriegsende: Die Kolonialmacht wankt und steht vor dem Staatsbankrott. Das beschert Labour 1945 unter Clement Atlee einen Erdrutschsieg. Das Wahlprogramm, wohl das radikalste Manifest für soziale Gerechtigkeit einer britischen Regierung im 20. Jahrhundert, animiert eine frustrierte Wählerschaft. Die will für den „Volkskrieg entlohnt“ werden. Unter Protest der Konservativen beginnt Labour endlich, die Extreme von Reichtum und Armut einzuhegen. Mit dem Aufbau des Wohlfahrtsstaates „von der Wiege bis zur Bahre“, der Erweiterung des sozialen Wohnungsbaus verfolgt die Regierung Atlee nicht nur das Ziel einer Egalisierung und Demokratisierung, vielmehr will Labour die britische Gesellschaft als ethisches Gemeinwesen wieder aufbauen.
Immer Ärger mit Harry erscheint 1949 inmitten des großen Gesellschaftsexperiments von Labour. Dabei enthält die schwarze Komödie bereits alles, was die künftigen Comic-Thriller, TV-Formate, Kolumnen von Jack Trevor Story ausmacht: ein ungetrübter Blick auf die englische Mittelklasse, deren Perspektive sich Story zeitlebens verpflichtet fühlt; die Ironie über ihr steifes Getue, die Kränkungen und die Bigotterie; Storys unprätentiöser, an Groschenheften und Western geschulter Stil sowie die Nähe zum politischen und gesellschaftlichen Zeitgeschehen.
Willkommen in Sparrowswick
Im kleinen Dorf Sparrowswick Heath scheint Ende der 40er Jahre die Welt wieder heil zu sein. Atlees Wohnungsbaupolitik hat Englands Provinz erreicht. Bungalowsiedlungen entstehen an ihren Rändern, wo nun Menschen unterschiedlichster Herkunft aufeinandertreffen. Mrs. Wiggs 5-qm-Laden mit dem vielversprechenden Label „Emporium“ ist so ein Ort, wo zwischen Speck-, Baumwollsocken-, Mundwasser- und Gemäldeverkauf der Aussteiger Sam Marlow, ein gut aussehender, mittelloser Künstler und freier Mann, der Neuankömmling und ausgediente Frachtschiffer Albert Wiles, die alteingesessene, unverheiratete Miss Ivy Graveley, die inkognito lebende, unglücklich verheiratete junge Jennifer Rogers, Mutter von Abie, und noch zwei oder drei andere sich einfinden; wo ein Millionär auftaucht, um für ein fantastisches Happy End zu sorgen. Der Weg für neue Verbindungen und Romanzen führt allerdings über Harry beziehungsweise „den Ärger mit Harry“, dass der tot ist.
Jung-Abie entdeckt an einem heißen Sommertag in den Hügeln von Sparrowswick die Leiche eines Mannes mittleren Alters. Doch bis die Polizei zum Zuge kommt und ein Arzt die alle entlastende Todesursache der Leiche diagnostiziert, bedarf es etlicher witziger Dialoge und vieler skurriler Situationen, die neue und alte Bewohner von Sparrowswick zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammenschweißen.
Drei Personen sind zunächst überzeugt, für Harrys Tod verantwortlich zu sein. Captain Wiles glaubt, Harry unglücklicherweise mit einem Hasen verwechselt und mit der Flinte erlegt zu haben; die ältliche Miss Graveley meint, sie habe auf Harry, als der sich ihr, in einem Anflug von Wahn, unsittlich näherte, so sehr mit dem Schuh eingeschlagen, dass der an den Folgen sterben musste. Und auch Abies Mutter enthüllt, es hätte auch sie sein können. In dieser Melange aus Schuldbewusstsein und Vertuschungsabsichten fällt dem Künstler Sam Marlow die Rolle des gutherzigen Spürhunds zu, der den Bewohnern mal hilft, die Leiche auszugraben, zu verscharren und wieder ans Licht zu holen, was der Aufmerksamkeit der Polizei nicht mehr entgehen kann. Der Fall findet ein glückliches Ende, aber Harrys Leiche hat für mächtig Tumult gesorgt, die dünne bürgerliche Patina aus Bigotterie und Ängstlichkeit der kleinen Gemeinschaft ist angekratzt. Doch das Gute am „Ärger mit Harry“– eine Parodie auf Atlees „geistiges Erneuerungsproramm des Gemeinwesens“ – ist, dass die Leute entlang der Hauptstraße von Sparrowswick Heath zusammengefunden haben und am Ende Hochzeitsglocken läuten.
Dass Jack Trevor Story nicht zu der „Hausnummer“ in der englischsprachigen Unterhaltungsliteratur avancierte, die er über seinen Tod 1991 hinaus sein müsste, liegt daran, dass Story sein leicht verunsicherbares, spleeniges Personal, in dem er sich nicht selten widerspiegelt, einfach mag. Anders als bei vielen Hardboiled-Autoren des englischsprachigen Krimi- und Comic-Genres der 40er und 50er Jahre (und danach), wie der 1918 und nur ein Jahr jüngere Mikey Spilane, der 1947 mit Mike Danger eine Fortsetzung des hartgesottenen amerikanischen Großstadtschnüfflers mit faschistoidem Hang zur Gewalttätigkeit entwickelt, bleibt Storys Literatur frei von Gewaltverherrlichung. Das liegt daran, dass in Jack Trevor Storys Geschichten der Tod allenfalls ein absurdes Nebengleis von Leben ist. Mehr ist für den 1917 geborenen Autor nach zwei Weltkriegen nicht mehr drin.
Vier Jahre nach Erscheinen von Immer Ärger mit Harry sichert sich Alfred Hitchcock für eine lächerliche Summe über einen Mittelsmann die Filmrechte, die er an Paramount verkauft, um 1955 die gleichnamige schwarze Komödie zu drehen. Als Jack Trevor Story hinter Hitchcocks Deal kommt, nimmt sich das wie eine Schlüsselszene seines Lebens aus. Story scheitert im Bemühen, Tantiemen aus dem Film herauszuschlagen. Zeitlebens an der Pleite vorbeischliddernd, bedeutet die Thatcher-Ära das Karriereende von Jack Trevor Story als Schriftsteller. Völlig verarmt stirbt er 1991. Die jungen Yuppies verachten seine Empathie für kleine Leute mit ihren Kalamitäten, seine Sympathie für das einst große Gesellschaftexperiment Labours, das er stets mit Augenzwinkern kommentierte. 70 Jahre nach der Erstveröffentlichung erscheint Immer Ärger mit Harry in deutscher Übersetzung. Man darf auf mehr hoffen.
Info
Immer Ärger mit Harry Jack Trevor Story Miriam Mandelkov (Übers.), Dörlemann 2018, 192 S., 17 €
Die Bilder des Spezials
Gangster, falsche Prediger, jede Menge Psychopathen und Mafiosi, Korruption in Politik und Polizei – das waren die berüchtigten Schattenseiten von Los Angeles, der berühmten Stadt der Engel.
Der Goldrausch, die Ölindustrie, Traumfabrik Hollywood – L.A. lockte Darsteller, Glückssucher und Hochstapler an, die Stadtbevölkerung explodierte in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, 1920 lebten in Los Angeles bereits 1,2 Millionen Einwohner. Dark City. The Real Los Angeles Noir (Taschen 2018, 480 S., dreisprachig, 75 €) zeigt den rasanten Aufstieg der Stadt in den 1920er bis 1950er Jahren. Der Band versammelt Fotos aus Archiven, Museen, vor allem aus dem spektakulären Privatbesitz des Kulturanthropologen und Grafikdesign- Experten Jim Heimann.
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