Darf man Kindern die Genitalien abschneiden? Hier eine kleine Entscheidungshilfe: Prügel, sexueller Missbrauch und das Abschneiden anderer Körperteile sind verboten. Am 12.12.2012 endete die monatelange Debatte um die Jungenbeschneidung. Es wird höchste Zeit zu untersuchen, wie viel Gerechtigkeit in dieser Rechtsprechung tatsaechlich steckt.
Die Amputation der Vorhaut bringt einen Verlust von 20.000 Nervenenden und eine Verhornung der Eichel mit sich. Männer, die im Erwachsenenalter beschnitten wurden, berichten von einem Gefühlsverlust von 50-90 Prozent. Umfassende medizinische Gutachten warnen vor dem irreversiblen Schaden.
Eine Beschneidung wird schlimmer erlebt als sexueller Missbrauch. Die körperlichen Folgen mehren zugleich die psychischen.
Die halbe Welt kämpft vereint gegen die weibliche Genitalverstümmelung. Was ist mit den Jungen?
Wo bleibt die Gleichberechtigung? FGM wird geächtet, weil es die Sexualität der Frau beschädigt. Genau wie die Beschneidung beim Mann.
Die Lustminderung war in den USA im 19. Jahrhundert ausdrücklich gewollt. Gleichzeitig galt die Vorhautamputation als Heilmittel für Krebs, Asthma, Blindheit und Lähmung- um nur einen Teil der Liste zu nennen. Seit den Achtzigerjahren existiert eine große Gegenbewegung, der sogenannte "Intaktivismus". Dessen Aufklärungsarbeit hat die Beschneidungsrate um fast die Hälfte gesenkt; jährlich schrumpft die Zahl der Fälle.
Nur weil der Bundestag vor drei Jahren die Legalisierung beschlossen hat, soll das Thema nun vom Tisch sein? Allein die Begründung dieses Gesetzes ist blanker Zynismus: Die Religionsfreiheit müsse gewährt sein. Ein Kind ohne seine Einwilligung zu brandmarken entzieht ihm jegliche Religionsfreiheit.
Täglich widerfährt rund hundert Jungen in Deutschland dieses Unrecht. Und die größte Schande dabei ist es, dass die Gesellschaft solche Verbrechen ignoriert. Wenn ein Beschnittener seinen Unmut äußert, stößt er auf Unverständnis. Das liegt am Mangel an Aufklärung aber auch an Solidaritätsfaulheit.
Meine Bitte: Versetzt euch ein die Lage eines Betroffenen! Stellt euch vor, die Hälfte eures sexuellen Empfindens verschwindet. Stellt euch vor, ihr seid sieben Jahre alt, ein Fremder dringt in eure Intimzone ein und verletzt eure wertvollsten Körperteile, welche ihr danach kaum wiedererkennt.
Letztendlich ist es mit der Jungenbeschneidung genauso wie mit FGM: so etwas wird nur geduldet, solange man nicht die Fakten kennt.
Zum Glück verletzt man sich beim Recherchieren nicht.
Kommentare 8
Nun ja, Frau Weiss, es gibt Kulturen, in denen das sexuelle Verhalten der Mitglieder strikt geregelt ist. Ziemlich viele Kulturen. Die "rationale" Begruendung kann man darin sehen, dass zu intensive Lustgefuehle das Einhalten der kulturellen Regeln erschweren (z.B. sex. Enthaltsamkeit in bestimmten Zeiten). Regelabweichungen wahrscheinlich machen.
Nun kann man natuerlich daruber streiten, ob diese kulturellen Regeln wichtiger sind, als die "natuerliche" Lust.
Nun muss man natuerlich sehen, dass das Primat der sexuellen Selbstbestimmung relativ jungen Datums ist.
Der Beweis dass dieser Primat fuer das menschliche Zusammenleben vorteilhafter ist, als die "jahrhundertealten" kulturellen Regeln ist noch nicht erbracht. Das wird noch einige weitere hundert Jahre dauern.
Starker artikel von Helena Weiss - Bravo!
AUSSIE42 scheint noch im Mittelalter zu leben - bedauernswert!
Sehr guter Kommentar zum 3. Jahrestags des Ungesetzes § 1631d BGB, vielen Dank dafür.
Und nein, die Debatte ist Ende 2012 nicht verstummt und wird auch nicht mehr verstummen.
Aussie42: "Der Beweis dass dieser Primat fuer das menschliche Zusammenleben vorteilhafter ist, als die "jahrhundertealten" kulturellen Regeln ist noch nicht erbracht. Das wird noch einige weitere hundert Jahre dauern."
Der Beweis ist noch nicht erbracht? Dann machen Sie doch mal einen Besuch im KZ Auschwitz. Dann werden Sie (hoffentlich) verstehen, warum die freie Entfaltung der Persönlichkeit dort enden muss(!), wo die Rechte anderer verletzt werden. http://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_2.html
Nach Ihrem Beitrag wird mir allerdings der immer wieder vorgetragene Mangel deutlich wie kaum je vor Augen geführt, dass bestimmte Teile der Bevölkerung offensichtlich aus der Geschichte nicht lernen wollen, und dass die Notwendigkeit die Erinnerung an die deutsche Geschichte wach zu halten, niemals in Frage gestellt werden darf.
Welche Strafe handel ich mir eigentlich ein, wenn ich einen erwachsenen Mann gegen seinen Willen beschneide? Wäre sc hwere Körperverletzung, oder?
@Helena Weiss: danke für den Artikel! Eine der besten Widerlegungen der üblichen Argumente, mit denen die Genitalverstümmelung bei Jungen rechtfertigt oder verharmlost werden, ist übrigens dies hier: https://robinsurbanlifestories.wordpress.com/2013/05/07/beschneidungsdebatte-ein-jahr-danach-beschissene-argumente-und-meine-antworten/ https://robinsurbanlifestories.wordpress.com/2013/12/15/beschneidungsgesetz-ein-jahr-danach-unendliche-diskussionen-und-mein-nachtrag/
Aussie: "Die "rationale" Begruendung kann man darin sehen, dass zu intensive Lustgefuehle das Einhalten der kulturellen Regeln erschweren ...".
In unserer Kultur entscheidet das Individuum frei, welchen kulturellen Vorstellungen es folgen will. Die Beschneidung erzwingt eine Konformität und wird für das Opfer erst erträglich, wenn sich selbst überredet an deren Vorteile zu glauben.
"Nun kann man natuerlich daruber streiten, ob diese kulturellen Regeln wichtiger sind, als die "natuerliche" Lust."
Erwachsene können darüber diskutieren. Kinder nicht. Deswegen muss man die Kinder erwachsen werden lassen, und dann sollen sie sich von mir aus aus freien Stücken dazu entschließen.
"Die Kinder sind kein Eigentum der Eltern, über das diese bestimmen dürfen."
Wie das Züchtigungsverbot auch. Es ist doch absurd die Prügelstrafe zu verbieten, aber eine Körperverstümmelung zu erlauben!
Ohne die meist unausgesprochene, falsche Idee einer Wiedergutmachung an den Juden (als ob die amputierten Kinder keine Juden wären), wäre dieses Gesetz nicht so durch den Bundestag gegangen. Nur die gelegentlichen Antisemitismusvorwürfe zeugten von diesem Konflikt zwischen orthodoxen Juden und Neuen Opportunisten.
Karikatur und Text
Liebe Frau Weiss,
ich bin die Vorsitzende des gemeinnützigen Vereins intaktiv - eine Stimme für genitale Selbstbestimmung e.V. (intaktiv.de). Leider ist es unserem Verein nicht gelungen, Sie anderweitig zu erreichen. Als Verein, der sich geschlechtsübergreifend für ein Recht auf genitale Unversehrtheit und Selbstbestimmung einsetzt - und somit auch von Vorhautamputationen betroffene Männer vertritt - freuen wir uns sehr über Beiträge, die den durch sog. Beschneidungen verursachten sexuellen Empfindungsverlust thematisieren und für die Rechte der Jungen und betroffenen Männer eintreten. Wir möchten daher gerne Kontakt mit Ihnen aufnehmen. Gern können Sie sich unter vorstand@intaktiv.de bei mir melden.
Herzliche Grüße,
Viola Schäfer