Jahrgänge der Erwartungshorizonte

Bildungssystem Was schafft Wissen? Die zweite Runde G8-Abiturienten strömt an die Universitäten, Konkurrenz und Leistungsdruck sitzen im Nacken. Doch es gibt Hoffnung. Eine Beruhigung

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Unsere Kinder müssen konkurrenzfähig werden! So lautet die große Botschaft, deretwegen G8 eingeführt wurde. Im internationalen Vergleich seien die Abiturienten zu alt, die Studenten begännen damit zu spät ihr Studium, um sich gegen die internationale Konkurrenz durchsetzen zu können. Doch wollen unsere zukünftigen Arbeitgeber überhaupt erschöpfte, verbissene Konkurrenzmaschinen?

Bevor die gravierenden Probleme der Bildungsungerechtigkeit in Deutschland beseitigt wurden, wurde das Abiturtempo verschärft, die Konkurrenz erhöht. Jeder konnte sich denken, wozu ein Doppeljahrgang führen würde, der an die Universitäten strömt: Die NC schossen in die Höhe, die Wartesemester mit. Die deutschen Abiturienten kommen nach regulär 12 Jahren, in denen sie gelernt haben, Erwartungshorizonten gerecht zu werden, an die Universitäten. Nachdem in den Gymnasien das Konkurrenzdenken schon etabliert ist – Schulformen untereinander, Gymnasien untereinander, Schüler untereinander – fanden sich die Schüler des G8-Doppeljahrgangs in unmittelbarer, an den NC ablesbarer Konkurrenz wieder. Ein ganzer Doppeljahrgang kämpfte um die raren Studienplätze. Und sie kämpfen noch immer. Denn die Schüler, die ein Jahr warteten, um dem Andrang auszuweichen, bewerben sich dieses Jahr. Und auch im nächsten.

Nicht wenige waren gerade erst 17 geworden, als sie Abitur hatten. Im internationalen Vergleich wären sie auf keinen Fall zu alt. Aber was nützt das – wenn sie noch nicht wissen, was sie später machen wollen? Die Zeit, in der sie hätten herausfinden können, wofür sie brennen, war voll mit Klausurterminen und Abiturprüfungen. Selbst auf das Auslandsjahr müssen sie meist noch warten, weil sie unter 18 Jahren im Ausland zu wenig Möglichkeiten und Rechte haben.

Mehr Zeit für Kompetenz wagen

Die Überflieger oder Begeisterten, die ihre Richtung bereits gefunden haben – und die richtigen Noten oder Glück im Losverfahren hatten, oder „standortflexibel“ sind – konnten mit dem Studium beginnen. Doch in vielen Fächern geht es weiter mit der Konkurrenz. Bachelor, Master, Regelstudienzeit... im internationalen Vergleich mithalten! Den Industrie- und Forschungsstandort Deutschland stärken, für Innovationen sorgen!

Doch wie können wir, die ehemaligen G8-Kinder, das schaffen? Wir, die keine Zeit für Leidenschaften, Muße, Entdeckerfreude, Begeisterung hatten, die für Innovationen genau wie für Kultur so wichtig sind? Auf einem ungerechten Bildungssystem wurde ein System des Wettbewerbs aufgebaut, und die Erwartungen der jungen Studenten an sich selbst sind groß. Grundschule, Gymnasium, Auslandsaufenthalt, Uni, Karriere; das wird erwartet. Denken wir. Ein linearer, karriere- und konkurrenzorientierter Lebenslauf. Überhaupt ist der Lebenslauf sehr wichtig für uns. Ohne Lücken, ohne Orientierungsphasen, ohne die Möglichkeit, sich zu irren. Studium abbrechen? Auf keinen Fall!

Wir denken, dass unsere zukünftigen Arbeitgeber das perfekte Zeugnis, den perfekten Lebenslauf erwarten. Wo bleibt aber da die Zeit für Engagement? Wissen diese Arbeitgeber, dass ein Einser-Zeugnis nichts über Mündigkeit, Selbstständigkeit, Talent, Lernfreude sagen muss? Über Kompetenz?

Letzteres ist ein wichtiges Wort. Im Lexikon heißt es:

„Psychologisch betrachtet definiert man Kompetenz als 'die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen (…) Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.' “

Verfügbar und erlernbar ist Kompetenz, diese These würde ich wagen, bei den meisten von uns. Aber wird sie in Konkurrenz gefördert? Können wir, die Jahrgänge der Erwartungshorizonte, „Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen“? Und wie viel Wert legen unsere zukünftigen Arbeitgeber darauf, herauszufinden, ob wir kompetent sind? Lesen sie dafür nur den Lebenslauf? Und muss dieser dafür lückenlos und akademisch orientiert sein?

Keine Angst vor den Arbeitgebern!

„Arbeitgeber“ ist bei uns Abiturienten ein abstraktes Schlagwort, und es ist mit Erwartungen, Hoffnungen und Ängsten besetzt. Sie entscheiden einmal über unsere Zukunft. Komme ich in das Unternehmen, die Institution, den Beruf, von dem ich träume?

Wir vergessen dabei, dass unsere zukünftigen Arbeitgeber mehr erwarten als formelle Perfektion, weil sie - im positiven Sinne! - gewissermaßen aus der Zeit fallen. Sie gehören einer Generation an, in der es nicht selbstverständlich war, ein Gymnasium zu besuchen und Abitur zu machen. (Nicht, dass das heute so wäre - aber Gymnasiasten wird das von allen Seiten eingeredet.) Viele von denen, die morgen unsere Lebensläufe anschauen, haben - wenn überhaupt - Abitur auf dem 2. Bildungsweg gemacht. Viele hatten vielleicht keinen perfekten Karrierestart, keinen glänzenden Lebenslauf, doch sie brennen für etwas, haben ihre Leidenschaft auf unkonventionellen Wegen zum Beruf gemacht – und sind damit erfolgreich. Es ist wichtig, zu verstehen, dass die Leute, die über unsere Zukunft entscheiden, Empathie besitzen. Dass ihnen der Wert von Begeisterung, Neugierde, Kreativität und Kompetenz bewusst ist. Denn auf diesen vier Säulen, davon bin ich überzeugt, ruht unsere Zukunft.

Die Demokratie, die zukünftigen Arbeitgeber, die Wirtschaft, die Politik, das Gesundheitssystem und die Kultur brauchen kompetente Gestalter. Querdenker. Keine menschlichen Suchmaschinen. Die gibt es schon digital, und sie sind bei Weitem mächtig genug.

Die Autorin ist 19 Jahre alt und war mit diesem Artikel für einen Journalistenpreis, Thema Bildungsjournalismus, in der Kategorie Nachwuchs nominiert. Sie selbst unterbrach ihr Turboabitur ein Jahr vor Ende, um eine Ausbildung zu machen. Nun folgt das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Helke Ellersiek

Freie Journalistin. Leipzig, Köln, Berlin.Twitter: @helkonie

Helke Ellersiek

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