Disziplin ist alles. Der Fotograf bekommt genau zehn Minuten, dann wird weiter trainiert im Ballett-Probensaal der Komischen Oper. Für ein Gespräch hat die Tänzerin dann etwas mehr Zeit. Die Sache ist ihr wichtig. Schließlich geht es nicht nur um das eigene berufliche Schicksal, sondern auch um das von Kollegen. Und um das Ballett an der Komischen Oper überhaupt, das bis vor einigen Jahren stolz Tanztheater hieß. Jetzt steht in den Opern-Reformplänen von Kultursenator Christoph Stölzl, dass ein eigenständiges Ballett "an der Komischen Oper nicht mehr existieren" soll. Wie viel das sparen könnte, ist nicht beziffert. Der Aufwand, mit dem das Ballett der Komischen den Bühnen der Deutschen Oper und der Staatsoper "kostenneutral zugeordnet" werden soll, wird mit 3,3 Millionen Mark angegeben. Ein Tanzensemble als finanztechnische Verschiebemasse?
In solchen Kategorien kann und will Angela Reinhardt nicht denken. "Tanz ist ihr Leben", sagen Kollegen über die Ballerina, die ihre Kunst nicht nur mit perfekter Technik präsentiert, sondern mit ihrer gesamten Persönlichkeit. Die ganz besondere Qualität ihrer Bewegungen habe bei der Reinhardt wohl mit einer seltenen Gabe, gleichermaßen aber mit Köpfchen zu tun. Tänzerkollegen, Dramaturgen und Choreografen können - wenn sie offen dafür sind - bei Angela Reinhardt stets einen ganz eigenen Prozess beobachten, wie sie sich eine Rolle langsam, sehr über das Gehirn gesteuert, erarbeitet, bis sie sich eine persönliche Beziehung zur Figur geschaffen hat, sich darin wohlfühlt und voll hinter der Darstellung steht. So wachsen grandiose, überzeugende Interpretationen, die die tänzerische Fachwelt immer wieder faszinieren und das Publikum selbst zu Tränen rühren können.
Dabei ist die Künstlerin eine sehr beständige Person. Sie wurde an der Spree geboren, besuchte bis 1983 die Staatliche Ballettschule Berlin und wurde danach vom Fleck weg von Tom Schilling für das Tanztheater der Komischen Oper Berlin engagiert. 1984 war sie bereits Solotänzerin, drei Jahre später 1. Solistin im Haus an der Behrenstraße. Sie wurde damit sehr jung Nachfolgerin von Hannelore Bey, die als große Ballerina der Emotionen Tanzgeschichte an der Komischen Oper mitgeschrieben hatte. Angela Reinhardt hat die Tradition aufgenommen, doch die Vorgängerin nie kopiert. Sie überzeugt stets durch Eigenes. Und was hat sie seither nicht alles getanzt: die Odette in Schwanensee, die Ottilie in Wahlverwandtschaften, das Aschenbrödel, die Antonia in Hoffmanns Erzählungen, die Königin in Die drei Musketiere, die Coppelia und viele andere Solopartien in modernen Tanztheater-Stücken. Experten loben Reinhardts große Wandlungsfähigkeit. Internationale Preise hat sie errungen. Schließlich war sie Tom Schillings Julia, die Ballerina in Jan Linkens Petruschka oder die Marie in Birgit Scherzers Woyzek.
In diesem Herbst gibt sie erstmals den schwarzen Schwan, tanzt die Odile in einer Tschaikowski-Inszenierung, die Gast-Choreografin Birgit Scherzer ihrer Saarbrücker Inszenierung von 1998 nachempfand: "Mir war die Rolle sofort sympathisch, als ich sie zum ersten Mal in Saarbrücken gesehen habe", meint Angela Reinhardt. "Diese Odile ist ein Knallbonbon, so jugendlich-untypisch. Überhaupt wird eine völlig andere Sicht auf den Schwanensee geboten. Wenn sich die Zuschauer darauf einlassen, merken sie bald: Hier darf gelacht werden ...
Die Premiere am 12. November stand unter keinem besonders guten Stern. Die Kritik überbot sich in Metaphern von "aufgescheuchtem Geflügel" und "tumb watschelndem Federvieh". Das hat die Situation für die Tänzerinnen und Tänzer an der Komischen Oper nicht leichter gemacht. Angela Reinhardt sieht die Presseschelte als Teil einer Kampagne. "Das Publikum hat durchaus kontrovers reagiert", meint die 1. Solotänzerin. "Es gab Buh-Rufe und Bravos. In den Zeitungen las man nur von den Buhs. Die tänzerischen Leistungen wurden kaum gewürdigt. Keinerlei Respekt vor dem Stück oder einem Konzept, das ich für wesentlich anspruchsvoller und durchdachter halte als manches, was sonst in der Stadt an Ballett geboten wird. Unterschiedliche Sichten sind doch anregend. Und wer Schwanensee partout klassisch haben will, kann das ja in der Staatsoper sehen ..."
Fakt ist: Die Verrisse gießen Wasser auf die Mühlen von Ensemble-Abwicklern. Die Schwanensee-Premiere soll nach den Plänen der Kulturoberen der Hauptstadt eine der letzten einer hauseigenen Ballett-Compagnie der Komischen Oper gewesen sein. Alle Tänzerinnen und Tänzer, die noch nicht acht Jahre im Ensemble sind, hielten am Premierenabend längst die Nichtverlängerung ihrer Verträge in der Hand. Der Intendant hatte sie ihnen just an dem Oktobertag zustellen lassen, als Kultursenator Christoph Stölzl sein jüngstes "Opern-Reform-Papier" vorgeblich erst zur Diskussion freigab. Und es stellte sich heraus: Über das Ballett der Komischen Oper will kaum jemand diskutieren. Ab Sommer 2001 soll es einfach nicht mehr existieren.
Aus heiterem Himmel kommt das nicht. Seit dem Ausscheiden Tom Schillings als Ballett-Chef 1993/4 versuchten seine Nachfolger eine Neuprofilierung. Jugendliches Publikum sprach durchaus darauf an. Jedoch das Stammpublikum, so Angela Reinhardt, wurde "in seinen Erwartungen nicht genügend beachtet", nicht mehr ausreichend ans Haus gebunden, verlor die Orientierung. Von "Demontage", "Ausbluten" und "Talfahrt des Zuschauerinteresses" zu sprechen, ist nicht falsch, vor allem, weil entsprechende Warnungen von der Intendanz nicht ernst genommen wurden. Der schon beschlossene Weggang des heutigen Ballettdirektors und Chefchoreografen Richard Wherlock nach Basel ist somit nur vorläufiger Endpunkt einer verhängnisvollen Entwicklung. Angela Reinhardt fasst es so: "Unser Ballett wurde bis 1999 als homogenste Tanzcompagnie Berlins bezeichnet. Es ist verheerend, wenn eine Truppe ohne Kontinuität und Konzept von außen gesteuert wird. Was haben wir in den vergangenen Jahren nicht alles mitgemacht." Sie räumt dennoch ein, auch bei Jan Linkens oder Marc Jonkers hinzugelernt zu haben. Achtzehn verschiedene Choreografen hinterließen in den letzten vierzehn Jahren an der Komischen Oper ihre künstlerische Handschrift. Oft war das eine Bereicherung. Zuletzt führte es mehr und mehr zu Gesichtsverlust. "Wer wirklich professionell ist, kann mit jedem Choreographen arbeiten", bestätigt die 1. Solotänzerin. Aber für sinnvoller hielte sie es, "wenn sich ein Choreograf an der Stärke und Wiedererkennbarkeit des bestehenden Ensembles orientiert, von den künstlerischen Potenzen vorhandener Tänzerpersönlichkeiten ausgeht ..."
Angela Reinhardt weiß, dass sie damit gegen den Strich bürstet, dem Trend "vagabundierender Tänzer und Choreografen" widerspricht. Sie möchte dem Wahn scheinbar alles beherrschender Flexibilität, dem übermächtigen Entertainment und schnell vergänglichen Schein eine Alternative mit Tiefgang entgegensetzen: wirkliche Kunst, die ihre Heimat in einem Ensemble findet und sich dort mit Identifikation verbindet. "Ensembles wachsen. Dass ich achtzehn Jahre lang bei einem solchen Prozess dabei sein durfte, empfinde ich als etwas Besonderes. Etwas, wofür es sich auch zu kämpfen lohnt."
Den Konzeptentwurf, den die Tänzerinnen und Tänzer vor Wochen für eine funktionierende verkleinerte Compagnie nach Wherlock vorlegten, wollten weder der Intendant noch der Kultursenator wirklich zur Kenntnis nehmen. Er geht genau von der Prämisse aus, dass ein echtes Ensemble mehr ist als die Summe seiner Mitglieder. Es ist ein kompaktes künstlerisches Gebilde mit Hintergründen, Tradition und Profil. Kurz: ein Qualitätsversprechen.
Es macht Angela Reinhardt wütend und traurig, dass ein solches Versprechen in Berlin offenbar niemand haben will. Einige tapfere Ensemblemitglieder mit Unterstützung ihrer Gewerkschaft sind bislang fast die einzigen, die gegen das Aus aktiv werden. Sie suchen Verbündete. Die Aufführung moderner Handlungsballette, die Berlin sonst nirgends bietet, möchte Sabine Schöneburg, die kulturpolitische Sprecherin der IG Medien Berlin-Brandenburg, gern an der Komischen Oper erreichen, statt nur Abfindungen und Sozialplan bei einer Spartenschließung einzufordern. Gegen die Zerstörung "einer der traditionsreichsten Compagnien Berlins" wendet sich die PDS-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Im Anschluss an eine Anhörung zu seinem Strukturpapier, die auch Mitglieder des Balletts der Komischen Oper besuchten, hat die Ballerina kürzlich Senator Stölzl direkt angesprochen. Sie hat seinen Vorschlag aufgegriffen, die Tänzerinnen und Tänzer zu treffen. "Der Tanz, das Ballett kommen in solchen Diskussionen immer ganz am Schluss oder nur am Rande vor. Mit uns direkt redet eigentlich niemand", empört sich die Ballerina.
Doch nun hat ein erstes Gespräch von Tänzerinnen und Tänzern aus der Behrenstraße mit dem Senator stattgefunden. Danach keimt ein Pflänzchen Hoffung, dass der Kultursenator die Bestandsgarantie, die er inzwischen für die Komische Oper als Ganzes zusichert, auch auf das Ballett ausdehnen könne. Jedenfalls wurde Interesse an Arbeits- und Auftrittsbedingungen für die Tänzer signalisiert. Und der Wille, die Farbe keinesfalls verblassen zu lassen, die die Compagnie der Komischen Oper bisher in der Palette hauptstädtischer Ballettkunst vertritt.
Angela Reinhardt ist überzeugt von der künstlerisch-konzeptionellen Berechtigung aller drei Ballett-Ensembles an den hauptstädtischen Opern. Weitere Profilierung sei möglich, doch "eine Rangelei untereinander ist völlig unsinnig". Gerade Konkurrenzdenken wurde in diesem Herbst verstärkt provoziert. Nach dem Willen des Kultursenators sollen die Opern-Ballett-Ensembles aus Spargründen in einem "Berlin-Ballett" aufgehen. Über das neue Ensemble wird seit zwei Jahren theoretisiert. Nach jüngsten Plänen soll es nur noch 104 Mitglieder haben, tänzerische Aufgaben an allen Berliner Opernhäusern übernehmen und zusätzlich mit eigenen Inszenierungen aufwarten. Für eine moderne Tanz-Compagnie unter diesem Dach könnten sich die verbleibenden Tänzerinnen und Tänzer der Komischen Oper ja bewerben. Oder sonst wohin gehen.
"Mich kriegt man hier so schnell nicht weg", sagt die Ballerina trotzig. Und es scheint, als sei sie willens, sich die ganze Tanztheater-Tradition der Komischen Oper - mit ihren Wurzeln in Felsensteins Realismus und der Prägung durch die moderne Tanzsprache Tom Schillings - auf die Schultern zu laden.
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