Politik der Götter

Religion, Recht und Macht Die Globalisierung fördert die Wiederkehr religiös begründeter Politik. Eindrücke von einer internationalen Konferenz des Potsdamer Einstein-Forums

Uns fasziniert und entzückt oft das Fremde. So lange wir als Touristen die Welt bereisen und selber bestimmen, wie nahe es uns rücken darf, empfinden wir die Begegnung mit anderen Kulturen und Religionen als Bereicherung unseres Erlebnisschatzes.

Schwieriger wird es schon, wenn die Fremden zu uns kommen. Da droht die Begeisterung für das Multikulturelle schnell an der Realität der Immigration, ihren sozialen Folgen und Konflikten zu zerschellen. So ist inzwischen die Forderung nach Integration im Sinne einer grundlegenden Anpassung der Einstellungen und Lebensweisen in allen politischen Lagern mehrheitsfähig.

Wirklich kritisch aber wird es, wenn die Fremden sich selbst, ihre Kultur und Religion, ernstlich als überlegen betrachten - und danach handeln. Da zeigt sich schnell, dass die Begeisterung für das oft archaisch anmutende Fremde der romantischen Sehnsucht nach dem Verlorenen gleicht: Wehe, es kehrte wirklich wieder, wir könnten es nicht ertragen!

So glauben viele heute meist insgeheim wieder an den historischen Fortschritt und an die zivilisatorische Überlegenheit des Westens: Selbst Kiplings "white man´s burden" - also die selbstgefällige Vorstellung, man sei von der Vorsehung dazu auserkoren, den Primitiven mühevoll die Segnungen der Zivilisation zu bringen - funktioniert erneut als Rechtfertigungsideologie für Ressourcenraub und kolonialen Rassismus. Der amerikanische Imperialismus im Namen von "Freiheit" und "Demokratie" und der Krieg gegen den Islamismus wären undenkbar ohne diese Selbstaffirmation mit durchaus religiösen Elementen, die das Eigene nicht nur verteidigt, sondern für überlegen hält.

Reform-Islamismus?

Die Tagung "Constitution and Confessions. The Politics of Religion", die in der vergangenen Woche im Potsdamer Einstein-Forum stattfand, stand unter dem Eindruck dieser globalen Entwicklungen, auch wenn sie nur am Rande thematisiert wurden. Insbesondere der Auftritt des heute noch in der Schweiz lehrenden, aber weltweit aktiven Islamwissenschaftlers Tariq Ramadan - der kürzlich für seine Kritik an der Unterstützung Israels durch prominente französische Intellektuelle scharf angegriffen wurde - war dazu interessant: Er wies die bei uns häufige Verkürzung der innerislamischen Diskussion auf einen Konflikt zwischen Islamisten und liberalen Reformern zurück. Dabei wandte er sich vor allem gegen eine naive, weil kontextlos und allzu wörtlich interpretierende Koranauslegung und betonte, der kreative Gebrauch der menschlichen Vernunft sei zum Verständnis der göttlichen Gebote notwendig.

Tariq Ramadan skizzierte dazu eine Art Dialektik zwischen dem für Gläubige verbindlichen Kern der koranischen Offenbarung und dem sich historisch und kulturell wandelnden Kontext ihres Verständnisses und ihrer lebenspraktischen Umsetzung. Dies Konzept zielt offenbar auf eine soziale und politische Erneuerung der islamischen Gesellschaften aus dem Geist eines "Reformislamismus". Damit stehen seine Vorstellungen quer: sie widersprechen sowohl dem liberalen Konzept einer Privatisierung und Entpolitisierung des Religiösen, als auch dem Mainstream des Islamismus, der durch die Abwehr der westlichen Moderne und das Phantasma einer Rückkehr zu den Anfängen des Islam geprägt ist. Nicht die buchstabengetreue Wiedererrichtung der idealen Gemeinschaft der Gläubigen unter Mohammed, sondern eine kreativ an deren Werten von Gerechtigkeit und Gleichheit orientierte Reformpolitik sei das Ziel. Dabei betonte Ramadan ausdrücklich die Notwendigkeit, die seiner Ansicht nach dem Koran widersprechenden und folglich nicht islamisch, sondern allein kulturell begründeten Formen geschlechtlicher, rassischer und religiöser Diskriminierung zu bekämpfen. Auch wenn man - zumal als Agnostiker - gegenüber jeder Form religiös begründeter Politik skeptisch bleiben sollte, handelt es sich doch bei Ramadans Konzept gewiss um einen der spannendsten Reformansätze innerhalb des Islam.

Radikaler Hindu-Nationalismus

Die mit religiös begründeter Politik verbundenen Gefahren wurden auf der Tagung allerdings weniger am Beispiel des Islamismus, als an der indischen "Hindutva"-Bewegung deutlich. Diese Bewegung, die ideologisch bis in die Anfänge anti-kolonialer Selbstbehauptung im 19. Jahrhundert zurückreicht, propagiert einen radikalen Hindu-Nationalismus und hat sich insbesondere die muslimische Minderheit zum existenziellen Feind erkoren. Sie ist heute nicht nur die stärkste politische und ideologische Kraft Indiens (auch wenn die BJP gerade die Wahlen und damit die Regierungsmacht an die Kongresspartei verloren hat), sondern verfügt auch über eine Vielzahl von Vorfeld-Organisationen bis hin zu Wehrsportgruppen, die zunehmend die indische Gesellschaft durchdringen. Dies gelingt besonders durch die skrupellose Verknüpfung religiöser und politischer Interessen und Gefühle. Der weitgehend neu erfundene beziehungsweise umgedeutete Kult des Gottes Ram und des "heiligen Mutterlandes" wird dabei für eine exklusive, gegen Moslems und andere Minderheiten, aber auch gegen Pakistan und den Westen gerichtete totalitäre Gemeinschaftsideologie benutzt.

Ein spannender Vortrag der indischen Historikerin Tanika Sarkar verband die Analyse und Kritik dieser religiösen "Blut und Boden"-Ideologie mit der Frage nach der Rolle von Frauen in der Bewegung. Sarkar zeigte die zahlreichen Brüche auf, die diese national-religiöse Ideologie von traditionellen hinduistischen Vorstellungen und Praktiken trennt und beschrieb ihre anti-demokratischen und explizit gegen die säkulare Verfassung Indiens gerichteten Ziele. In einer dem traditionellen Hinduismus fremden, aktivistischen Umdeutung des Verhältnisses von Gottheit und Gläubigen werden der Kampf gegen die Feinde und das Selbstopfer für die Einheit des als Muttergottheit vorgestellten Landes zum Erlösungsgeschehen stilisiert, an dem jeder gute Hindu teilzunehmen hat. Dabei werden Frauen organisatorisch und ideologisch eingebunden, was ihnen eine Teilhabe am religiösen Selbstermächtigungswahn ermöglicht. In fataler Nähe zum nationalsozialistischen Rassendiskurs wird die "Reinigung" des Landes von allen Feinden zur Voraussetzung seiner "Ganzheit" und des künftigen Heils.

Welche Konsequenzen eine solche Ideologie haben kann, verdeutlichte schrecklich eindringlich der - schon auf der Berlinale gezeigte - Film Final Solution von Rakesh Sharma. Diese vierstündige, kommentarlose Dokumentation der Pogrome an Moslems im Bundesstaat Gujarat (mit massenhaften Brandschatzungen, Vergewaltigungen und Tausenden von Toten), die von der dortigen BJP-Landesregierung und der Polizei geduldet oder sogar mitorganisiert wurden, konfrontiert höchst eindringlich die Berichte der Überlebenden mit dem politischen Diskurs der Täter beziehungsweise ihrer Hintermänner. Dabei berichtet der Film nicht nur von der Grausamkeit der Pogrome, sondern zeigt auch die Ratlosigkeit der Opfer, die gewundenen Selbstrechtfertigungen der Täter sowie die Dynamik einer fortschreitenden Entfremdung und Verfeindung. Dagegen scheinen die Versuche eines Dialogs und einer juristischen Aufarbeitung fast chancenlos - auch wenn der Regierungswechsel inzwischen dazu neue Hoffnung bietet.

Religionskonflikte als Machtfragen

Einige der Probleme eines Dialogs der Religionen und Kulturen verdeutlichte ein Vortrag des vielfach in solchen Projekten engagierten Münchener Religionswissenschaftlers Michael von Brück. Hinter vermeintlichen Religions- und Kulturkonflikten stünden regelmäßig Fragen der Machtverteilung und Ressourcenkontrolle. Schließlich seien Kulturen keine homogenen Gebilde, sondern komplexe Ensembles von Diskursen und Praktiken und in ständiger Wandlung begriffen. Entsprechend komme es darauf an, eine Politik der Kooperation, Gerechtigkeit und Chancengleichheit zu befördern. Allerdings sei der dazu notwendige Dialog seinerseits sowohl begrifflich als auch praktisch von unterschiedlichen Prämissen, Perspektiven und Interessen geprägt. Diese Differenzen müssten ausgehalten und der Streit um die Begriffe, Regeln und Ziele des Dialogs offen geführt werden, ohne die dabei hintergründig mitwirkenden Machtstrukturen zu verdrängen. Letztlich hängt für von Brück ein Erfolg offenbar von der Bereitschaft ab, Macht zu teilen und so eine gerechtere Welt zu schaffen.

Damit bleibt freilich noch unklar, wie jenen zu begegnen ist, die imperiale Ziele verfolgen und ihre Vorstellungen vom richtigen Leben mit Gewalt anderen aufzwingen wollen. In solchen Fällen stößt wohl jeder Dialog an seine Grenzen. Dabei gibt es tatsächlich viele gute Argumente dafür, die heutigen globalen Konflikte und die mit ihnen verbundene Wiederkehr einer religiös begründeten Identitäts- und Abgrenzungspolitik nicht als quasi naturwüchsigen "Kampf der Kulturen", sondern vor allem als Folge des globalen Modernisierungsprozesses selbst zu sehen. Das macht allerdings die Sache nicht einfacher, da es eben nicht allein um die Bekämpfung von Armut und Unterdrückung gehen kann: Oft sind es gerade ökonomisch erfolgreiche und sozial aufstrebende Gruppen, die zu militanten Ideologien der religiösen oder nationalen Selbstbehauptung neigen.

So widerspricht die heute (fast) weltweit zu beobachtende Bedeutungszunahme von Religion für Politik und Identitätsfindung den lange geläufigen sozialwissenschaftlichen Deutungen der Moderne als Epoche der "Säkularisierung" (also des Bedeutungsverlusts oder doch zumindest der zunehmenden Privatisierung von Religion) und "funktionalen Differenzierung" (also auch der klaren Trennung von Religion und Politik). Vielmehr spricht viel dafür, dass der Kampf um politische, ökonomische und kulturelle Selbstbehauptung in einer zunehmend vernetzten, damit aber eher noch konfliktträchtiger werdenden Welt die politische Bedeutung der Religionen mittelfristig noch verstärken wird. Nur ein erfolgreicher Kampf um eine aufgeklärte und tolerante Interpretation der großen religiösen Traditionen wird wohl einen Kampf der Götter verhindern können.


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