Man kann und darf mit Terroristen nicht verhandeln!« - So lautet die Prämisse nahezu aller Diskussionen über den islamistischen Terror und seine Bekämpfung. Sie ist emotional und sachlich verständlich angesichts der Grausamkeit der Attentate und der Unklarheit, wer ein ernsthafter und autoritativer Verhandlungspartner sein könnte. Aber sie droht in die Sackgasse eines nicht zu gewinnenden Dauerkrieges zu führen: Grund genug, dieses Tabu in Frage zu stellen.
Schon heute sind die Terroristen ideologisch und politisch weit weniger isoliert, als viele uns glauben machen wollen. So ist etwa al Qaida nicht eine bloße »kriminelle Vereinigung« oder eine marginale Gruppe religiöser Fanatiker, sondern ein weitgehend akzeptierter Teil des radikalen Flügels einer breiten politischen Bewegung, die heute in verschiedenen Ausprägungen in allen islamischen Ländern existiert. Manche sprechen schon von einer diffusen »islamistischen Internationale«.
Dieser »Islamismus« ist nicht etwa ein religiöser Traditionalismus, sondern eine primär politisch orientierte Ideologie anti-westlicher Selbstbehauptung. Er ist dabei eine im Kern defensive Reaktion auf die Modernisierungskrisen der islamischen Gesellschaften. Deren Probleme mögen weitgehend hausgemacht sein - sie werden aber von vielen Muslimen als Folge der militärischen, politischen, ökonomischen und kulturellen Übermacht des Westens gedeutet. Deshalb zeichnet sich heute eine langsame Durchdringung und teilweise Ersetzung der traditionellen Formen des Islam durch eine eher politisch denn religiös motivierte Djihad-Ideologie ab. Die meisten Muslime mögen den Terror als Mittel kritisieren, sie mögen auch den Wert- und Gesellschaftsvorstellungen der Islamisten eher ambivalent gegenüberstehen - aber die Ablehnung der westlichen, speziell der amerikanischen Politik und die Forderung nach einem politischen Kampf zur »Befreiung« der islamischen Welt von der übermächtigen Dominanz der »Juden und Kreuzritter« werden allgemein geteilt.
Damit aber droht die Eskalations-Strategie der radikalen Islamisten aufzugehen. Diese zielt darauf, den Krieg gegen den terroristischen Flügel des Islamismus zu einem Kampf des Westens gegen den gesamten Islam umzudeuten und auszuweiten, um so die Mehrheit der Muslime für die eigenen Ziele zu mobilisieren. »Winning the hearts and minds« wäre deshalb die eigentliche Aufgabe und Gegenstrategie - nicht, wie die Amerikaner in Anlehnung an den Zweiten Weltkrieg vielleicht meinen, nach einem Sieg, sondern schon heute. Einen Sieg wie gegen den Faschismus wird es nämlich gegen den Islamismus kaum geben, weil politisch, kulturell und psychologisch die Situation eine ganz andere ist. Ist aber der Krieg erst zu einem Kampf gegen den Islam als Religion und Lebensform geworden, stehen wir einer unlösbaren Krisensituation gegenüber: Wie will man eine Milliarde Menschen dauerhaft beherrschen oder gegen ihren Willen isolieren?
Die gegenwärtige Politik der USA wirkt freilich wie ein gigantisches al Qaida-Förderprogramm. Gerade die pro-westlichen Kräfte in der islamischen Welt verzweifeln: Die Unterstützung des israelischen Siedlungskolonialismus und das Schweigen angesichts der Unterdrückung von Tschetschenien bis Kaschmir, die rücksichtslose Verfolgung geostrategischer und ökonomischer Interessen sowie nicht zuletzt der drohende Irak-Krieg verstärken den Eindruck westlicher Heuchelei und einer Wiederkehr des Imperialismus. Man mag sich sogar fragen, ob nicht ähnlich wie im Palästina-Konflikt eine faktische Übereinstimmung der Interessen der radikalen Kräfte auf beiden Seiten existiert: Sucht die amerikanische Politik vielleicht sogar eine Eskalation des islamistischen Terrors zu provozieren, um einen Vorwand für die Durchsetzung ihrer eigenen Pläne einer neuen Weltherrschaftsordnung zu bekommen?
Wie immer man dies einschätzen mag - wichtig für eine linke Politik ist, die entschiedene Ablehnung des anti-demokratischen, anti-säkularen und latent totalitären Islamismus mit einer ebenso entschiedenen Ablehnung der Etablierung einer amerikanischen Weltherrschaftsordnung unter dem Vorwand des »Krieges gegen den Terror« zu verbinden. Zugleich gilt es nüchtern anzuerkennen, dass heute ein irregulärer, asymmetrischer Krieg stattfindet, der unser aller Geschichte noch lange mitprägen wird. Da sein Ende unabsehbar ist, sollten wir die Chancen seiner Begrenzung und »Hegung« erkunden und dazu die Möglichkeit künftiger Verhandlungen mit radikalen Islamisten ernsthaft bedenken.
Damit ist weder der wohlmeinende, aber oft naive religiös-kulturelle »Dialog mit dem Islam« gemeint noch die notwendigen Diskussionen mit und Unterstützungen für gemäßigte Muslime. Es ginge vielmehr um genuine Verhandlungen mit dem »Feind« - vielleicht nicht direkt mit al Qaida, aber doch mit ideologisch nahestehenden Organisationen. Solche Verhandlungen würden nicht bedeuten, dass der Westen kapituliert und die eigenen Überzeugungen und Interessen aufgibt. Zugleich kann man aber auch nicht auf eine »Bekehrung« der Islamisten zur Moderne oder auf eine Einigung über Werte und Lebensformen hoffen. Statt dessen müsste ein Versuch unternommen werden, durch pragmatische Verhandlungen die Opfer des irregulären Krieges möglichst zu minimieren und dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen zuvor zu kommen.
Terroristische Angriffe folgen ja einer durchaus rationalen Strategie: Sie sollen den Gegner demoralisieren, seine Verwundbarkeit demonstrieren, ihm die steigenden Kosten seiner Politik deutlich machen - und sie sollen die potenziellen Kämpfer oder Unterstützer der eigenen Sache motivieren und mobilisieren. Die Reaktion des Gegners ist dabei ein zentraler Bestandteil des eigenen Kalküls: Je undifferenzierter und grausamer er zurückschlägt, desto wahrscheinlicher wird eine Solidarisierung der potenziell sympathisierenden Bevölkerungsteile mit den irregulären Kämpfern.
So haben der Terror und seine Bekämpfung nicht nur eine blutig-reale, sondern zugleich auch eine geradezu dramaturgische Dimension: Sie gleichen einem Bühnengeschehen, auf dem um die Solidarisierung des (in sich kulturell, religiös und politisch heterogenen) Publikums für die jeweilige Seite gerungen wird. Die Terroristen müssen dabei aber nicht an den Sympathien des gesamten Publikums interessiert sein: Auch Angst kann die eigenen Ziele befördern.
Gerade diese Eigenheit des modernen Terrorismus als »irregulärer Krieg vor Publikum« bietet aber eine Chance zu seiner »Hegung«: Beide Seiten müssen letztlich um die Zustimmung des vielfältigen Weltpublikums werben. Vor allem muss die Art der Kriegsführung für die eigenen Sympathisanten noch akzeptabel bleiben. Die Mittel sowohl der Terroristen als auch der Politiker und Militärs des Anti-Terror-Kriegs unterliegen damit zumindest mittelfristig einer gewissen Einschränkung durch den Einfluss des Publikums. Die Notwendigkeit der Mobilisierung für die eigene Sache legt so den Kriegsparteien Grenzen auf. Auch die Attentate vom 11. 9. 2001 sind hierzu kein Gegenbeweis. Sie zeigen nur die Radikalisierung der al Qaida und ihre Einschätzung, dass solche Kriegsformen für das mit ihr sympathisierende Publikum noch akzeptabel sind. Nicht die Moral, sondern allein die strategische Rationalität des irregulären Krieges bietet uns eine Hoffnung zu seiner Begrenzung.
Die Erfahrung vieler auch mit terroristischen Mitteln ausgetragener Konflikte zeigt, dass die Chancen für einen politischen Kompromiss oft wachsen, je stärker die »irreguläre« Seite wird. Während nämlich ein Terrorismus ohne breite Massenbasis - wie im Falle der RAF und anderer linksextremer Gruppen der siebziger Jahre - mit Gewaltmitteln erfolgreich bekämpft werden kann, wird - wie Beispiele von Nordirland über Sri Lanka bis Tschetschenien zeigen - ein »Sieg« mit primär polizeilichen und militärischen Methoden nahezu unmöglich, sobald eine solche Massenbasis existiert. Das aber ist bei den islamistischen Terroristen schon heute der Fall. So stellt sich letztlich die Alternative zu verhandeln, oder die unterstützende Bevölkerung zu verfolgen bis hin zur weitgehenden Vernichtung - aber wer kann das angesichts über einer Milliarde Muslime ernsthaft erwägen? In paradoxer Weise könnte also gerade eine weltweite Stärkung der Islamisten zu einer Begrenzung der Formen der Konfliktaustragung und später vielleicht auch zu politischen Lösungen führen.
Was aber könnte in absehbarer Zeit Gegen-stand von Verhandlungen werden? Eine politische Lösung ist ja angesichts des latent totalitären Charakters des Islamismus und der konkurrierenden Ansprüche auf eine Gestaltung der Weltordnung in keiner Weise absehbar. Auch ist es wichtig, den Islamismus nicht als »Stimme des Islam« anzuerkennen, sondern die durchaus auch existierenden liberalen Tendenzen im Islam zu unterstützen. Den Islamisten wäre aber zu zeigen, dass man sie als politische Gegner ernst nimmt - nicht im Sinne einer Akzeptanz ihrer Wert- und Gesellschaftsvorstellungen, sondern als reale politische Kraft, mit der ein »modus vivendi« zu suchen ist. Eine solche »Anerkennung« als Gegner (»iustus hostis«) kann eine erste Grundlage für weitergehende Verhandlungen bieten. Bei diesen müsste dann ein Versuch zur Entwicklung eines Kriegsrechts (»ius in bello«) des irregulären Krieges gemacht werden.
Wie eine solche »Hegung« des irregulären Krieges konkret aussehen könnte, ist natürlich schwer vorauszusehen. Denkbar wäre - analog zum »Diskriminierungsgebot« des modernen Kriegsrechts - eine erste pragmatische Einigung darauf, dass die Islamisten ihren irregulären Krieg auf militärische Ziele beschränken, während ihnen im Gegenzug eine Behandlung als Kombattanten sowie eine Minimierung der »Kollateralschäden« unter der Zivilbevölkerung zugesichert wird. Jeder Politikwechsel hin zu Vereinbarungen mit den radikalen Islamisten müsste natürlich gegen die jetzige US-Administration durchgesetzt werden. Das mag heute utopisch erscheinen, doch wäre mittelfristig eine entsprechende Initiative von halboffizieller europäischer Seite vorstellbar.
Mit einer »Anerkennung« des Gegners ist zwar noch nicht der Frieden wieder hergestellt, wohl aber eine Grundlage für Verhandlungen zur »Hegung« des irregulären Krieges geschaffen. Eine solche Konfliktbegrenzung wäre weitaus mehr, als bei einer Fortsetzung der jetzigen Politik zu erwarten ist.
Helmut Fallschessel ist Wissenschaftler in Berlin und arbeitet derzeit an einer Studie zur Konfliktphilosophie.
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