Unterbrechung im Gehirn

Anti-Psychiatrie Über den Umgang mit dem "Wahnsinn": eine post- und vulgärmaterialistische Rosengartensuche

Das Online-Wohlfühlparadies für Hypochonder und solche, die es werden wollen –„paradisi.de“ – behauptete kürzlich: „Bei einer Schizophrenie helfen Medikamente noch immer am besten.“ Das Portal berief sich auf eine „aktuelle Meta-Studie“, für die Daten von 6.000 Betroffenen ausgewertet wurden. „Ein Teil“ bekam während der „therapeutischen Betreuung“ Psychopharmaka, „und der Rest nur Placebos“.

Wenig später fand im Haus der Demokratie in Berlin eine große Veranstaltung von Psychiatriekritikern statt, die sich gegen die Therapie mit Psychopharmaka aussprechen. Eingeladen hatte der Verein zum Schutz vor psychiatrischer Gewalt, um eine Dokumentation über Alternativen zur orthodoxen Psychiatrie vorzustellen: „Auf der Suche nach dem Rosengarten“.

Diese Suche, die in verblüffendem Gegensatz zur psychiatrischen Praxis steht und vielen daher neu erscheint, ist eine Fortsetzung. Sie fing mit der Antipsychiatrie während der Studentenbewegung an. Damals wurden – beginnend in Norditalien – psychiatrische Anstalten geschlossen und die „Irren“ mit der Selbstorganisation konfrontiert. „Freiheit heilt!“ hieß eine Kampfschrift von Sil Schmid dazu. In Heidelberg gründete sich ein „Sozialistisches Patientenkollektiv“ (SPK). Es wurde schon bald von den Staatsorganen zerschlagen – wegen einer vermeintlichen Nähe zur RAF.

Symbole der Befreiung

„Gibt es überhaupt etwas in der Geschichte, was nicht Angst vor oder Hoffnung auf die Revolution [den Rosengarten] ist?“, fragte sich der französische Philosoph Michel Foucault, der bereits 1961 eine Studie über Wahnsinn und Gesellschaft veröffentlicht und sich in der Folgezeit immer mehr mit und für „Internierte“ engagiert hatte. Ähnliches traf auf den französischen Antipsychiater Fernand Deligny zu, der mit einer Gruppe „verhaltensgestörter Jugendlicher“ („Autisten“) die Anstalt verließ und sich mit ihnen in den Chevennen niederließ – auf einem „Floß in den Bergen“, wie sein Bericht darüber hieß. Analoge Projekte versuchten damals auch linke Psychiater wie Ronald D. Laing (siehe S.19) und Félix Guattari zu realisieren.

Von Triest aus, wo die europäische Antipsychiatriebewegung mit dem dortigen Klinikchef Franco Basaglia („Die Ausbildung zum Irrenarzt ist identisch mit der Ausbildung zum Folterer“) ihren Anfang genommen hatte, starteten die Psychiatrie-Betroffenen ab 1985 mit überlebensgroßen Symbolen der Befreiung – dem Pferd „Marco Cavallo“ und den „Bremer Stadtmusikanten“ – eine „Blaue Karawane“ zu (noch) geschlossenen Einrichtungen im Ausland bis hin nach Norddeutschland. Seitdem gibt es hierzulande in vielen Städten Blaue-Karawanen-Vereine und andere psychiatriekritische Initiativen.

In Westberlin veranstaltete die „Irrenoffensive“ 1998 ein Foucault-Tribunal zur Lage der Psychiatrie. Zuvor hatte sie – unter anderem zusammen mit dem Foucaultexperten Thilo von Trotha – ein Weglaufhaus (nach holländischem Vorbild) gegründet. Dieses noch heute funktionierende Asyl von und für Psychiatrie-Betroffene war 2011 auch an einer Reihe von Tagungen und internationalen Konferenzen beteiligt, deren Ergebnisse jetzt in der Dokumentation zusammengefasst wurden.

Mündig durch Gehorsam

Finanziert hat das Papier der Paritätische Wohlfahrtsverband, in dem Jasna Russo vom Verein für alle Fälle das Projekt koordinierte. Mit dabei waren ferner Zofia Rubinsztajn vom Verein für Frauen mit sexueller Gewalterfahrung in der Kindheit, Wildwasser-Selbsthilfe, und Patrizia di Tolla – Referentin für Psychiatrie beim Paritätischen. Von den Berliner Selbsthilfe-Initiativen, die in der Dokumentation zu Wort kommen, sei noch Tauwetter erwähnt – eine Gruppe von Männern, denen in jungen Jahren sexuelle Gewalt angetan wurde. Und von den Teilnehmern der Veranstaltung im Haus der Demokratie die Obdachlosen-Gruppe Unter Druck. In diesem Projekt, wie auch in den antipsychiatrischen Kriseneinrichtungen, haben die Helfer oft mit Leuten zu tun, die alles verloren haben: „Wohnung, Finanzen, Hoffnung“.

Der Bericht nun befasst sich mit dem „Krisenumgang ohne Medikamente“, mit „informeller Hilfe“ und „politischer Selbsthilfe“ sowie mit den „Erfahrungen mit Betroffenenkontrolle“ in verschiedenen Ländern. Vom Podium aus wurde erörtert, welche Rolle das Erfahrungswissen in der psychiatrischen Praxis sowie in der Ausbildung und Forschung spielt. Neben der Patientenkontrolle kam auch ihre „Beteiligung“ darin zur Sprache. So haben in den Reinickendorfer psychiatrischen Diensten etwa 200 Mitarbeiter Psychiatrieerfahrung. Und im Weglaufhaus sind die Hälfte aller Mitarbeiter Betroffene, wobei gesagt werden muss, dass die meisten eine Ausbildung haben. Um von der repressiven Staatshilfe wegzukommen, braucht es „formale Voraussetzungen“. Für eine Anstellung im Weglaufhaus braucht man etwa eine Sozialarbeiterausbildung. Im Offenburger Verein für Obdachlose werden inzwischen 6,5 von 17 Sozialarbeiterstellen von Betroffenen besetzt. Zugleich weigert sich der Senat, eine Mitarbeiterin von Wildwasser zu bezahlen, weil sie einen pädagogischen und keinen sozialpädagogischen Abschluss hat. Selbst der Aufenthalt in diesen Selbsthilfe-Einrichtungen kann zum Problem werden, denn er oder sie braucht dazu eine „Kostenübernahme“, die behördlicherseits verschleppt oder verweigert werden kann.

Aus dem Publikum kam der Vorschlag, an einer der Berliner Universitäten einen Lehrstuhl für kreativen Wahnsinn zu schaffen, um „die Ansätze von Beuys und Neuss zu verschmelzen“, und wo Psychose-Seminare angeboten und ein Stimmenhörer-Netzwerk aufgebaut werden kann. Als dazu der Hund von Zofia Rubinsztajn bellte, wurde auch dieser Beitrag aufgegriffen: „Ja, ich kann nur jedem raten, der unmündig ist, sich einen Hund anzuschaffen. Wenn der einem gehorcht, wird man sofort für mündig erklärt.“ Jasna Russo fügte hinzu, dass jeder Erfahrungswissen habe.

"Der Schizo weiß aufzubrechen"

Dies gilt auch für jeden anderen medizinischen. Die psychiatrisch Internierten und pharmakologisch Sedierten haben in den sechziger Jahren den Anfang gemacht – mit der Selbstorganisation, aber spätestens seit der Internetverbreitung haben auch alle anderen – von den Allergikern bis zu den Krebskranken – angefangen, ihre eigenen Erfahrungen, ihr Krankheitswissen untereinander zu diskutieren und es gegenüber den Ärzten in Anschlag zu bringen.

Das hört sich alles positiv an, wenn man jedoch die Berichte und Protokolle aus der Anfangszeit der Antipsychiatriebewegung liest, kann man gleichzeitig darüber verzweifeln, wie wenig erreicht wurde. Vorbei die Zeit, als der Psychiater Félix Guattari und der Philosoph Gilles Deleuze verkündeten: „Der Schizo weiß aufzubrechen. Er macht aus dem Aufbruch so etwas Einfaches wie Geborenwerden oder Sterben.“ Seit dem Untergang der Sowjetunion, dem Siegeszug des Neoliberalismus und der damit einhergehenden Privatisierungswelle hat ein geradezu sarrazinistischer Antihumanismus um sich gegriffen. Der Partizipationsforscher Jan Berg drückte es in Berlin so aus: „Mit der Hirnforschung, der Neurobiologie, hat sich alles gedreht: Jeder denkt, er findet jetzt die Schraube.“

Soll heißen: Man sucht allenthalben nach Mitteln und Wegen, um Verhaltensauffällige zu „normalisieren“. Im Verein mit der Molekularbiologie und den Neurowissenschaften bieten die Pharmakonzerne dazu immer neue Medikamente an.

Neurologische Mondlandung

Wie sich diese vermeintliche Helferwelt darüber hinaus auch neu organisiert, sei hier am Beispiel der AOK Niedersachsen erwähnt: Sie verkauft sich und ihre Mitglieder gerade an den amerikanischen Konzern Johnson & Johnson. Diese Privatisierung hat den nassforschen Namen: „Care 4 S“ – das „S“ steht für Schizophrenie. Dahinter verbirgt sich eine deutsche Tochterfirma von J & J: die Janssen-Cilag GmbH. Sie stellt Psychopharmaka her – und gründete zusammen mit der AOK Niedersachsen ein Institut für Innovation und Integration im Gesundheitswesen (die I3G GmbH). Diese Gesellschaft ist nun für die Installation eines „neuen ambulanten Versorgungssystems“ verantwortlich, das natürlich als „Netzwerk“ bezeichnet wird. Und dieses wurde bereits in den USA geknüpft: mit Johnson & Johnson an vorderster Front – als Teil einer ganzen Kampagne namens „One Mind for Research“. Diese organisatorische Zusammenführung von Wissenschaften, nationaler Gesundheitsinstitute, Psychiatrie und Pharmaindustrie hat nichts weniger im Sinn als analog zur Landung auf dem Mond nun das Gehirn zu erobern, um innerhalb eines Jahrzehnts Geisteskrankheiten und psychische Störungen erfolgreich zu „bekämpfen“. Die Organisation One Mind, deren ehrenamtliche Vorsitzende bei Johnson & Johnson angestellt ist, gab erst einmal eine Studie über die psychische Verfasstheit der US-Bevölkerung in Auftrag. Derzufolge leidet einer von sechs Amerikanern an einer „Krankheit mit Hirnbezug“ – wie „Depression, Autismus, bipolare Störung oder Schizophrenie“.

Im Zentrum der Werbekampagnen von One Mind steht indes die posttraumatische Belastungsstörung (PTSD). Sie wurde durch die Vietnam Veterans bekannt und 1980 von der American Psychiatric Association anerkannt. „Die PTSD-Diagnose bedeutete eine Würdigung ihrer psychologischen Leiden“, schreibt die Soziologin Eva Illuoz. Von den organisierten Vietnamsoldaten aus wurde „das PTSD dann auf immer mehr Vorkommnisse und Fälle ausgeweitet, etwa auf Vergewaltigung, terroristische Angriffe, Unfälle, Verbrechen etc..“ Dabei geht es nicht zuletzt um die Rente, denn „die Klassifizierung von Pathologien entsprang der Tatsache, dass die mentale Gesundheit aufs Engste mit der Versicherungsdeckung verknüpft wurde.“ Heute, vor dem Hintergrund der Traumatisierung vieler Soldaten, die im Irak oder in Afghanistan eingesetzt wurden, „hat die Frage nach den biologischen Grundlagen der PTSD in den USA eine besondere Bedeutung“, schreibt der Journalist Matthias Becker. „Von den konkreten Erfahrungen, die die Soldaten im Krieg gemacht haben, ist allerdings nicht die Rede – wohl aber von ihren Gehirnen.“

Psychologisch deutet eine seelische Störung auf einen inneren Konflikt hin – etwa zwischen einem Selbstbild als guter Mensch und den Gewalterfahrungen an der Front. Diese Ebene kommt bei One Mind schlicht nicht vor. Stattdessen beschäftigen sich die beteiligten Forscher damit, wie etwa „die Repräsentation der Angst in der Amygdala unterbrochen werden kann“. Um Unterbrechungen im Gehirn geht es auch bei den Elektroschocks. Diese einst als Folter begriffene Behandlung von Irren erlebt in Deutschland nun als verfeinerte „Elektrokrampftherapie“ (EKT) eine neue Konjunktur unter Nervenärzten, obwohl man bis heute nicht weiß, was der Strom im Gehirn eigentlich bewirkt. Die Süddeutsche Zeitung meldete im August: „Die Fachgesellschaften sprechen sich dafür aus, die EKT künftig nicht mehr nur als Ultima Ratio, sondern früher im Behandlungsverlauf einzusetzen.“

Noch gibt es allerdings Psychiater, die die EKT ablehnen – weil sie befürchten, dass man damit die offenkundig schützenswerte Identität des Patienten verändert.

Helmut Höge, geboren 1947, ist Publizist. Spatzen Gänse Pferde heißt sein jüngstes Buch, das mit Hunde Elefanten Schwäne Krebse fortgesetzt wird

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden