Die Grammatik der Werte

Soziale Gerechtigkeit und kritische Theorie Ist das Prinzip der Anerkennung Grundlage für Umverteilung oder muss man beide gleichrangig behandeln? Wie sich eine Debatte zwischen Axel Honneth und Nancy Fraser auf die neue Sozialgesetzgebung beziehen lässt

Wenn ein Generalsekretär der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands den Begriff "demokratischer Sozialismus" aufgeben und die Frage der Umverteilung auf den Müllhaufen der Geschichte werfen will, dann sollten wir aufhorchen. Der Vorschlag von Olaf Scholz, den Begriff des demokratischen Sozialismus ad acta zu legen, wurde zwar von Franz Müntefering zurückgewiesen, aber findet auch in der Sozialdemokratie Befürworter. Alarmierend an Scholzens normativen Streichungsvorschlägen ist, dass es sich bei ihnen nicht um das zur Zeit viel kritisierte Abweichlertum handelt. Im Gegenteil, auf der Seite der "demokratischen Linken" passiert unter moralischen Gesichtspunkten derzeit Seltsames. Umverteilung, so auch Joschka Fischer, sollte nicht mehr das einzige Projekt der Linken sein. Und selbst die PDS muss mit selbstgerechten Vorwürfen vorsichtig sein. Während der derzeitige Vorsitzende Bisky die rot-grüne Politik auf Bundesebene als "asozial" tituliert, sucht man vergebens qualitative Unterschiede zwischen Rot-Grün im Bund und der Politik des rot-roten "Projektes" auf der Berliner Landesebene. Dass die Reformvorschläge der Union noch härter wirken würden, macht die Sache nicht leichter. Es erfordert eher das Einüben differenzierten Denkens.

Zur Debatte steht derzeit nicht nur die drohende Verarmung, Verelendung und Dequalifizierung für viele Menschen als Folge der gegenwärtigen Reformpolitik. Es geht um mehr, denn in unserer Gesellschaft geht wirtschaftlicher Wohlstand Hand in Hand mit gesellschaftlicher Anerkennung und Teilhabe. Eine neue Umverteilungsfrage steht an, aber als Umverteilung von unten nach oben. Mit der Verarmung verbunden sind Prozesse der Demütigung und Missachtung, des mangelnden Respekts von Menschen, die um ihren Lebensstandard, ihre Ersparnisse, ihre soziale Sicherung fürchten müssen. Und es ist jetzt schon ersichtlich, dass mit dieser Umverteilung eine massive Disziplinierung der Betroffenen einsetzen soll.

Die Frage, die sich daher stellt, zielt auf das Verständnis von gesellschaftlicher Gerechtigkeit und die Möglichkeit eines befriedigenden Lebens für den Einzelnen im Kontext der konkreten gegenwärtigen Gesellschaft. Wir befinden uns in einer Entwicklung, in der sich die kalkulierbaren wirtschaftlichen Verhältnisse für den Einzelnen auflösen, und das führt zu einem Verlust von Planbarkeit und Erwartungssicherheit der (potentiellen) ArbeitskraftverkäuferInnen. Der neue Kapitalismus des flexiblen Menschen scheint darauf zu basieren, dass keine Regulierungsmechanismen im herkömmlichen Sinn entwickelt werden können. Da Lebensplanung unter diesen Bedingungen nicht möglich ist, leidet auch das, was man als "Autonomie" der betroffenen Menschen bezeichnen könnte. Ein Prozess, der damit einherzugehen scheint, ist auch die Umwertung der Werte. Nicht mehr Solidarität und soziale Verantwortlichkeit prägen das Selbstverständnis unserer Gesellschaft, sondern Effizienz und ökonomis(ti)sches Denken.

Zwar berufen sich Bundesregierung wie Opposition bei ihren Plänen auf die Eigenverantwortlichkeit der Menschen, in der Realität aber laufen die Pläne auf Zwang und den Verlust von Wahlmöglichkeiten hinaus. Menschen als Subjekte, die ihr Leben selbst regeln und erst damit auch verantwortlich für sich sein können, kommen dort de facto nicht vor. Das Gerechtigkeitsverständnis der Akteure erschöpft sich in Drohungen und Diffamierungen gegenüber den Betroffenen. Zeit also für eine Debatte darüber, was Gerechtigkeit in der heutigen Gesellschaft bedeuten kann.


Ein Blick auf die Debatte zwischen der amerikanischen sozialistisch-feministischen Philosophin Nancy Fraser und dem deutschen Sozialphilosophen Axel Honneth über die Frage des Verhältnisses von "Umverteilung" und "Anerkennung" kann dabei hilfreich sein. Diese Debatte verbindet zwei Themen, die in den westlichen Staaten die Entwicklung der letzten Jahre geprägt haben: Identitätspolitik und Verteilungsgerechtigkeit

Der Ausgangspunkt der Debatte sind Frasers Tanner-Lectures, in denen sie kritisiert, dass sich die öffentliche und philosophische Debatte in den letzten Jahren einseitig in Richtung auf Fragen der Anerkennung (also auch der Identitätspolitik) verschoben habe, Fragen der Umverteilung dagegen zunehmend vernachlässige. Fraser plädiert für einen "perspektivischen Dualismus", der Umverteilung und Anerkennung als analytisch zu trennende, realhistorisch aber meistens kombiniert auftretende Problembereiche betrachtet. Anerkennung und Umverteilung folgen demnach einer je eigenen Logik und einem je eigenen Begründungsmodus und haben daher auch eine gleichrangige Bedeutung. Soziale Gerechtigkeit könne also nicht auf die Anerkennungsfrage zurückgeführt werden. Das Kriterium für soziale Gerechtigkeit sei "partizipatorische Gleichheit", also die Fähigkeit des Einzelnen, sich ungezwungen und frei am gesellschaftlichen und politischen Leben beteiligen zu können. Politische Maßnahmen erhöhen dann die soziale Gerechtigkeit, wenn als deren Folge die Menschen in einer Gesellschaft mehr am gesellschaftlichen und politischen Leben teilhaben können. Frasers Ansicht zufolge verfehlt das Anerkennungskonzept Honneths die Problematik der gesellschaftlichen Gerechtigkeit, weil es das Thema der Umverteilung nicht systematisch einbeziehen kann.

Honneth widerspricht dem, da es seiner Ansicht nach in modernen Gesellschaften in allen sozialen Auseinandersetzungen um die Frage der wechselseitigen Anerkennung der Subjekte gehe. Er entwickelt, ausgehend von Überlegungen des frühen Hegel und des Pragmatisten George H. Mead, ein subjektphilosophisches Stufenmodell der Anerkennung, das drei Anerkennungsdimensionen beinhaltet. Ausgangspunkt sind die primären Beziehungen (zum Beispiel Familie, Freunde), die es dem Subjekt ermöglichen, Selbstvertrauen zu entwickeln. Die nächste Stufe ist die Sphäre des Rechts, in der sich die Menschen wechselseitig als Gleiche mit gleichen Rechten anerkennen. Die dritte Stufe schließlich ist die Sittlichkeit (Gesellschaft), in der die Anerkennung auf gegenseitiger Wertschätzung beruht. Die volle Anerkennung auf jeder dieser Stufen würde es dem Subjekt ermöglichen, sich zu einem sich für vollwertig haltenden Menschen zu entwickeln. Die Frage der Umverteilung ist für Honneth dem Kampf um Anerkennung logisch nachgeordnet, da soziale Konflikte, Kämpfe um Gerechtigkeit in erster Linie immer die Folge von unerfüllter Anerkennung (Missachtung, Demütigung) sei.

Gemeinsam ist Fraser und Honneth, dass sie die Kritische Theorie erneuern und auf die aktuellen sozialen Problemlagen ausrichten wollen. Ebenso ist beiden die Bedeutsamkeit der Umverteilungsfrage und die Entstehung einer neuen Armut bewusst. Honneth hat, das sei ausdrücklich erwähnt, auf eindringliche Weise in den frühen neunziger Jahren die Verarmungstendenzen beschrieben, die Folge der Deregulierungspolitik der achtziger Jahre waren. Doch die Amerikanerin Fraser ist in dem Sinne "politischer", als sie sich direkt auf gesellschaftliche Kämpfe und deren Akteure, die sozialen Bewegungen, bezieht und dies auch als Ansatz für die Entwicklung Kritischer Theorie für notwendig erachtet. Honneth hingegen meint, dass dieser direkte Bezug auf die Aktivitäten sozialer Bewegungen den philosophischen Kern der Frage, was Gerechtigkeitsdiskurse ausmache, verfehle. Fraser verfalle zu sehr aktuellen Oberflächenphänomenen, das sei gut gemeint, aber wenig hilfreich. Die Anerkennungstheorie ermögliche die Analyse der "moralischen Grammatik sozialer Konflikte" und könne damit die Kritische Theorie philosophisch fundieren.


Wenn man diese kontroversen Positionen - frech und entgegen dem Selbstverständnis der AutorInnen - als sich ergänzende Beiträge liest, kann man auch Verbindungen zur gegenwärtigen Debatte um die Reformpolitik ziehen. Man könnte mit Honneths Stufenmodell der Anerkennung die These entwickeln, dass gegenwärtig zumindest die Gefahr einer rückläufigen normativen Entwicklung des Verständnisses individueller Autonomie besteht und dass dies paradoxerweise in der Sphäre des Rechts geschieht, in der doch der Grundsatz der Gleichheit verankert ist. Wie schon erwähnt, wird die Autonomie des Einzelnen potentiell durch eine neue Sozialgesetzgebung bedroht, die ihn als nicht mehr als vollwertig anerkanntes Subjekt in unserer Gesellschaft auszeichnet. Was anderes bedeutet die geplante Verordnung der "Zumutbarkeit" von Arbeit oder die Drohung der Streichung von Geldern für die "nicht Arbeitswilligen"?

Damit ist aber noch nicht viel über gesellschaftliche Auseinandersetzungen gesagt, denn mit Honneth sind die umverteilungs- und machtpolitischen Interessen, die hinter der neuen Entwicklung der Sozialgesetzgebung stehen, nicht erfassbar. Ebensowenig kann Honneths Theorie etwas über die systemischen Aspekte marktwirtschaftlicher Prozesse aussagen, die nicht die "Verteilung" von Anerkennung sondern von Wohlstand und materiellen Gütern regeln. Als eine Grundlage von Autonomie sollte ja wohl die Möglichkeit eines auch ökonomisch kalkulierbaren Lebens betrachtet werden. Frasers "perspektivischer Dualismus", dem es sowohl um die Logik von Umverteilung wie von Anerkennung geht, kann an dieser Stelle ansetzen und böte ein Instrumentarium, um die Reformvorschläge à la Hartz, Rürup, Herzog kritisch auf den Umverteilungsaspekt hin zu befragen. Hier würde wohl als Ergebnis herauskommen, dass die "partizipatorische Gleichheit" der von den sozialpolitischen Maßnahmen Betroffenen zurückgeht.

Das Sympathische an Fraser ist, dass sie sich ausdrücklich als - auch kritische - Begleiterin und Aktivistin politischer Bewegungen sieht. Es gibt jedoch eine Möglichkeit, beiden Ansätzen, demjenigen Honneths und demjenigen Frasers, ihren Platz zukommen zu lassen. Honneth betont an sozialen Konflikten die Dimension des Leidens und der Missachtung aufgrund verweigerter Anerkennung und kann damit auch Motive der Subjekte für Entscheidungen zum politischen Handeln, Protest, Widerstand, sichtbar machen. Fraser hingegen analysiert Konflikte als Konstellation von gesellschaftlichen Umverteilungs- und Anerkennungsfragen. In ihr Blickfeld geraten die systemischen Prozesse und die daraus entstehenden Interessenkonstellationen. Darüber hinaus lassen sich mit ihrem Konzept Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise als solche thematisieren, was mit Honneths Anerkennungstheorie nicht zu leisten ist.

Literatur: Nancy Fraser, Axel Honneth: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003


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