Aufmerksamkeitsorganisation

Radikalchic Berlins "digitale Bohème" feiert sich auf dem Festival "9to5" selbst und hält nach einem "linken Neoliberalismus" Ausschau

Auf dem Festivalkongress 9to5. Wir nennen es Arbeit, der vergangene Woche im Berliner Radialsystem stattfand, gab es eine denkwürdige Szene. Eben noch behelligte das Supatopcheckerbunny die ver.di-Beauftragte für Freiberufler, Veronika Mirschel, mit aufgesetzt-naiven Fragen über die Zahl der Mitgliedsjahre, bis man bei ver.di eine silberne Anstecknadel erhält. Da treten die Unternehmensberaterinnen Kirsten Brühl und Imke Keicher auf die Bühne und präsentieren ihre Studie Creative Work. Normalerweise machen sie dies vor staunenden Unternehmern aus der Provinz, die sich mit Fragen nach Kreativität und Mehrwert niemals herumgeplagt haben. Hier jedoch tragen die Powerpoint-Expertinnen Eulen nach Athen. Unter den anwesenden Kreativarbeitern gerät ihr Vortrag zur unfreiwilligen Selbstparodie.

Den Freiberuflern ist der Consulting-Sermon nur zu vertraut. Längst leben sie von "Creative Work", das den Referentinnen zufolge doch erst 2015 die jetzige Wissensarbeit ablösen soll. Als nach dem Platzen der Dotcom-Blase zur Milleniumswende in Berlin und anderswo Tausende von Kreativarbeitern auf die Straße gespült wurden, weil sich ihre Brötchengeber verspekuliert hatten, war mit einem Mal eine neue Klasse geboren, die "digitale Bohème". So zumindest will Holm Friebe, Festivalleiter und Buchautor (Wir nennen es Arbeit. Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung, Freitag 49/2006), sein Anliegen verstanden wissen: "Eine wachsende Gruppe gut ausgebildeter und produktiver Zeitgenossen pfeift auf die klassische Karriere, verweigert den loyalen Gehorsam in der Festanstellung und schert aus dem Rattenrennen der Angestelltenkultur aus."

Wenn Menschen, denen mehr versprochen wurde, als die Ökonomie hergibt, sich zusammenschließen und über die Gründe ihrer Situation und über ihre Aussichten auf dem Arbeitsmarkt räsonieren, ist das natürlich legitim. Einer Aufstellung des Berliner Wirtschaftssenats zufolge hat die Zahl der Festanstellungen innerhalb der "Kreativwirtschaft" trotz steigender Umsätze in den letzten fünf Jahren um elf Prozent abgenommen. Daran wird sich wohl nichts mehr ändern. Zu Recht fragen sich also die digitalen Bohèmiens, ob eine Strategie seitens Wirtschaft oder Staat dahintersteckt. Mit der Erkenntnis aber, dass freiberufliche Arbeit gern gesehen wird, weil sie so schön wirtschaftskonform ist, tun sie sich schwer.

Stattdessen verhebt man sich am Überbau. Ein Podiumsgespräch über "linken Neoliberalismus" verrät nicht nur ein Theoriedefizit seitens der "Bohème", die viele Bücher auf dem Nachttisch liegen, aber nicht gelesen hat. Hier wird auch die politische Praxis verkannt. Es reicht nicht aus, sich hier ein bisschen Freiburger Schule und dort eine Prise Foucault auszuleihen im Ansinnen, einen falsch verwendeten Begriff, den Neoliberalismus, zu besetzen und neu aufzuladen. Symbolische Praxis als heiße Luft. Was will die digitale Bohème? Sie will "links" sein, weil das so schön nach Wahrheit klingt, sie will Selbstorganisation, weil das viel Freiheit verspricht, und sie will vor allem eins: profitieren. Ihre Währung heißt Aufmerksamkeit.

Durch pausenloses Bewerben der eigenen Aktivitäten in Form von Büchern, Blogs und Partys haben die Digitalmatadore sich einen der vorderen Tische im Café Bohème erkämpft. So predigte der britische Neo-Dandy Tom Hodgkinson mit bizarrem Rekurs aufs Mittelalter den Müßiggang und ein Leben auf dem Lande. Stefan Niggemeier hat die Eigenpromotion bis ins Fernsehen getrieben, wo auf MTV nun ein Werbespot für seinen Bildblog läuft. Mit Rainer Langhans und dem Münchner Harem waren prähistorische Paradebeispiele der Aufmerksamkeitsökonomie angetreten, die seit Jahr und Tag nur sich selbst beweihräuchern. Und Jörg Schröder vom ehemaligen März Verlag erzählt seit ewigen Zeiten die Geschichte von Bismarc Media, einer "ironischen Firma", deren einziger Zweck es war, Konzepte zu entwickeln, die nie verwirklicht wurden.

Gegen all dies wäre wenig zu sagen, wenn nicht ständig historisch peinliche Grußadressen von den Kongressveranstalter verlautbart würden. Mit dem Tunix-Kongress von 1978 fühlt man sich verwandt, die jungsozialistischen Falken, die kürzlich ihren 100. Geburtstag feierten, werden gegrüßt und der ver.di-Zentrale am gegenüberliegenden Spreeufer wird zugewunken. Dort steht in riesigen Lettern "Würde hat ihren Wert, Arbeit hat ihren Preis" zu lesen. Sehr ironisch klingt das nicht, und es ist ungewiss, ob die digitale Bohème viel Verständnis für diese Art von Arbeitskampf aufbringt.

Dazu ist sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Und das muss erstaunen, zumal sie gar nicht existiert. Die "digitale Bohème" ist eine Marketing-Erfindung einiger Leute im Dunstkreis der "Zentralen Intelligenz Agentur", die mit dem schillernden Begriff sich selbst ins Rampenlicht gesetzt haben. Von der oftmals prekären Lage vieler ihrer Mitstreiter, der 1000-Euro-Liga, die von Mercedes Bunz, Chefredakteurin von Tagesspiegel Online, einmal als "urbane Penner" deklariert worden sind, hört man hingegen wenig, schon gar nicht auf dem Kongress. Oder sind Vorträge mit dem Titel "Wie ich die Dinge geregelt kriege - ohne einen Funken Selbstdisziplin" am Ende nicht ironisch gemeint?

Selbstdisziplin ist im Grunde auch nicht nötig. Die vereinigte Projektarbeiterschaft empfindet sich zu Recht als "Vorzeige-Avantgarde" neuer Arbeitsbedingungen. Längst haben Politik und Ökonomie die Vorzüge erkannt. Für die Politik zählen Kreativarbeiter und ihr künstlerisches Umfeld zu den begehrten Standortfaktoren, in denen inzwischen jede größere Stadt einen urbanen Mehrwert vermutet. Für die Wirtschaft sind die Kreativen kostengünstige Leiharbeiter, deren Selbstausbeutung oft genug Teil des Preiskalküls ist. Doch die Kreativen ficht das nicht an. Sie sitzen im Prenzlauer Berg in der Mittagssonne, schlürfen Latte Macchiato und nennen es Arbeit.


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