Das Internet ist eine Welt, in der kaum jemand für etwas bezahlen will. Angela Merkel fragte deshalb am Tag des geistigen Eigentums, wie sich vor dem "Herunterladen von Computern" zu schützen sei. Kann man das? Und muss man das überhaupt? Ein Pro und Contra zu dem Thema, ob Zeitungen im Netz gratis sein sollten.
Es ist noch gar nicht so lange her, da wurden Pressearchive gehütet wie der Nibelungenschatz und galten als unternehmerisches Kapital. Heute räumt ein Verlag nach dem anderen den Weg zum eigenen Archiv frei. Selbst große, renommierte Pressehäuser wie Focus, Spiegel und Zeit verzichten auf die ohnehin niemals üppig sprudelnde Einnahmequelle aus den Archiven. Seit September sind im Internet 62 Jahrgänge von Die Zeit, seit Mitte Januar 15 Jahre Focus und mehr als 300.000 Artikel vom Spiegel abrufbar.
Als Nutzer kann man das nur begrüßen. Nie war es so einfach, an journalistische Informationen zu gelangen, und niemals so kostengünstig. Ohne sich in Bibliotheken begeben zu müssen oder bei Pressediensten viel Geld zu bezahlen, sind der privaten Recherche keine Grenzen mehr gesetzt. Die Zeiten von paid content, Bezahlinhalten, sind vorbei. Das Geschäftsmodell hatte sich im Internet ohnehin nie richtig durchgesetzt. Den meisten Nutzern waren die Hürden zu hoch. Tief verankert in ihrem Bewusstsein ist die Mentalität der Gratiskultur. Irgendwo gibt es eine vergleichbare Information auch umsonst, lautet die Devise. Und so segeln die Surfer im großen Bogen an kostenpflichtigen Inhalten vorbei.
Bei der Zeit sind nunmehr 350.000 Artikel frei zugänglich. Das Online-Archiv des Hamburger Pressehauses kann sowohl im Volltext als auch nach Schlagzeilen und Autorennamen durchsucht werden. Zusätzlich lassen sich die einzelnen Jahrgänge durchforsten. Die Cover der wöchentlichen Zeit-Ausgaben sind im Originallayout zu sehen. Interessant: Grafiken, Karikaturen und Fotos auf der Frontseite der Zeit hat es von Anbeginn gegeben. Laut Pressemitteilung zählt das Archiv monatlich zwei Millionen Besuche mit 5,2 Millionen Seitenaufrufen. Ein schöner Erfolg, der das Bedürfnis nach zuverlässiger, verbürgter Information unterstreicht.
Vom Computerwissenschaftler Joseph Weizenbaum ist das Internet einmal als "Schrottplatz mit Perlen drin" bezeichnet worden. Aus der Unzahl von Google-Ergebnissen die guten Treffer herauszupicken, verlangt hohe Medien- und Weltkompetenz. Diesen häufig beklagten Umstand machen sich Verlage mit ihrer Archivöffnung zunutze. Denn nun tauchen sie in den Trefferlisten von Google, Altavista und anderen Suchmaschinen auf. Für die New York Times, die mit ihrem kostenpflichtigen Angebot TimesSelect immerhin zehn Millionen Dollar Einnahmen im Jahr erzielt hat, war die Sichtbarkeit in Suchmaschinen ausschlaggebend für die Öffnung des pay wall im September 2007. Man hatte festgestellt, dass Besucher immer häufiger über Google zu den Artikeln gelangen. Je leichter Zeitungsinhalte von den Suchrobotern gefunden werden, desto besser für die Marke.
So geht es den Verlagen um Präsenz im Internet und größtmögliche Verbreitung der eigenen Marke. Auch beim Spiegel haben Überlegungen zur Markenrelevanz die Entscheidung, das gesamte Hausarchiv zu öffnen und unter dem Etikett Spiegel Wissen bereitzustellen, beflügelt. Tippt man dort einen Suchbegriff in die Maske ein, wird ein regelrechtes Dossier zusammengestellt, bestehend aus Artikeln von Spiegel, Spiegel Online und dem Manager Magazin, aus Einträgen des Bertelsmann Lexikons und von Wikipedia, aus Fotografien und - falls vorhanden - Videos von Spiegel TV. Derart um die Marke gruppierte Informationen wollen vor allem eines: den Leser an die eigene Plattform binden.
Bezahlt werden soll das nämlich alles durch Werbung. Es scheint ausgemacht, dass sich gegenwärtig eine gewaltige Verschiebung des Werbemarktes hin zum Internet ereignet. Laut IT-Nachrichtendienst Golem.de betrug das Online-Werbeaufkommen in Deutschland 2007 knapp eine Milliarde Euro. Doch momentan macht Online-Werbung am gesamten weltweiten Werbeaufkommen gerade einmal vier Prozent aus. Zum Vergleich: Auf Print-Werbung entfallen 62 Prozent und auf Fernseh- und Rundfunkwerbung 24 Prozent. Grund genug für die Verlage, rechtzeitig online vorzusorgen. Aus dieser Perspektive erscheint ihr Engagement denn auch wenig altruistisch: Es geht um Marktmacht und Klickkonkurrenz.
Je mehr Leser sich auf den Zeitungsportalen und in Online-Archiven tummeln, desto besser lässt sich dort Werbung verkaufen. Zahlte man bislang etwa für einen Spiegel-Artikel bei der Wirtschaftsdatenbank Genios 2,38 Euro, bei der Gruner Jahr Pressedatenbank 1,37 Euro und beim MedienPort des Süddeutschen Verlags 1,85 Euro, liegt er heute beim Spiegel selbst umsonst vor. Der entgangene Profit soll durch Werbung wettgemacht werden - ganz so wie sich bereits einige Nachrichtenportale vollständig durch Werbung tragen.
Welche Konsequenzen damit einhergehen, ist noch nicht genau auszumachen. Zunächst einmal dürfte es schlecht um die Zukunft der professionellen Datenbanken stehen, deren Kerngeschäft unmittelbar bedroht ist. Hat sich erst einmal herumgesprochen, dass Online-Archive die Aufmerksamkeit des eigenen Titels steigern helfen, dürften auch andere Pressehäuser nachziehen. Dass dagegen durch die zunehmende Migration ins Internet ein Gratiszeitungseffekt entsteht, eine Entwertung journalistischer Inhalte, ist nicht zu befürchten. Zumindest für die Online-Archive, deren historische Schätze zu bergen viel einfacher geworden ist, trifft das nicht zu. Was kümmert es die Rezension von Bölls Ansichten eines Clowns aus der Zeit vom Februar 1963, dass Kiepenheuer Witsch eines Tages im Zeit-Archiv möglicherweise Werbung schalten lässt?
Vor geraumer Zeit gab es eine Diskussion über privatwirtschaftliche Unternehmen wie Amazon, die auf eigene Kosten Bücher, deren Urheberrecht abgelaufen ist, einscannen und auf ihrer Internetpräsenz anbieten. Darf ein Unternehmen an dem verdienen, was allen gehört? Und was passiert mit den gemeinfreien Werken, wenn das Unternehmen pleite geht?
Hier liegt der Fall anders: Die Artikel von Zeit, Spiegel und Focus wurden zu jeder Zeit als proprietäres Verlagseigentum behandelt. Dass in vielen Fällen den Autoren ihr verbürgtes Urheberrecht per Knebelvertrag entwendet worden ist und sie an den zusätzlichen Einnahmen nicht partizipieren, ist sicher ungerecht. Den Verlagen jedoch ist schon der Wandel der internen Mentalitätskultur nicht ganz leicht gefallen. Stets gingen sie davon aus, dass ihre journalistischen Preziosen jedem lieb und teuer sein müssen, und sie mochten lange Zeit nicht akzeptieren, dass die Gratiskultur im Internet keine Herabsetzung der Inhalte bedeutet. Gratis heißt nicht billig. Als Nutzer kann man das nur begrüßen.
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