Dass man während der Abendschau niemanden telefonisch erreichen kann, ist ein in Berlin gern gepflegtes Gerücht, das sich jedoch widerlegen lässt. Es soll ja solche Leute wirklich geben - vorzugsweise im Westen wohnend und im fortgeschrittenen Alter. Meinen Bekannten dagegen scheint die tägliche Dosis "Unsere kleine Welt" nicht so wichtig, auch wenn sie die Abendschau und ihren Hauptmoderator Friedrich Moll natürlich kennen und gelegentlich sehen. Ich selbst bin ein Anhänger dieser Sendung und schalte ein, wann immer die Zeit es zulässt, abends um halb Acht. Die Welt im Kleinen, wie sie dort in den Lokalnachrichten erscheint, wo die Aktualitäten des Tages sortiert und eingetütet werden, strahlt eine erhabene Ruhe aus. Als Zuschauer gewinnt man - allen schlechten Nachrichten zum Trotz - das beruhigende Gefühl, dass den Reportern der Abendschau schon nichts entgangen sein wird und alles noch an seinem Platz ist.
Für diese Zuversicht sorgt Friedrich Moll, der Anchorman der Abendschau. Wenn er im stürmischen Programmmeer des Fernsehens vor Anker geht und für eine halbe Stunde sein Fernglas auf die Geschehnisse in der Stadt richtet, dann weiß man sich in guter Gesellschaft. Oder ist die anglizistische Metapher vom "Anchorman" umgekehrt gemeint, und der Zuschauer wirft seinen Aufmerksamkeitsanker ins Abendschau-Studio aus, wo der Herr Moll zur Fahrt durch den Hafen der Großstadt lädt? Sei´s drum! Der schlanke, wettergegerbte Ein-Meter-Neunzig-Mann mit den schlohweißen Haaren - privat übrigens ein passionierter Segler mit eigenem Boot in Griechenland - ist für die Berliner seit vielen Jahren als "Mr. Abendschau" eine feste Größe, quasi ein Fels in der Brandung. Stets ein bisschen müde wirkend, gleichwohl aufgeweckt, präsentiert er mit nicht nur ungerührter Miene typische Berliner Schlagzeilen wie "Krieg der Bockwürste" und "Pariser Platz ohne Sylvesterfeier", "Frau in Reinickendorf erstochen" oder "Einweihung des neuen Shaolin-Tempels" - Themen, die die Stadt bewegen.
Man sagt den Berlinern nach, sie seien provinziell und es fehle ihnen das gewisse Savoir-vivre. Zu dieser Ansicht trägt weniger der ruppige Umgangston und die schlecht sitzende Kleidung bei als vielmehr das in der Stadt übliche vorkopernikanische Weltbild. Für den Berliner dreht sich die Welt nur um ihn und seine Stadt. Die solipsistische Haltung rührt noch aus Mauertagen her, als alle Völker der Welt aufgefordert waren, auf diese Stadt zu schauen, und man sich der eigenen Besonderheit gewiss sein konnte. Noch heute kommen Sendungen wie die Abendschau nicht umhin, diesen Anspruch zu bedienen. Das liegt in der Natur der Sache, denn Lokalnachrichten konstruieren ihren Ort erst dadurch, dass sie den Rest der Welt ausblenden. Wenn Friedrich Moll deshalb sagt "Wir machen Provinzfernsehen" - wobei er auf den Unterschied zu "provinziellem Fernsehen" größten Wert legt -, dann schwingt darin sowohl die Einsicht mit, eben doch bloß einen größeren Kiez abzubilden, als auch der Ehrgeiz, die weite Welt ließe sich daraus irgendwie ableiten.
Ihre Beliebtheit und einen durchschnittlich 30-prozentigen Marktanteil, das sind rund 340.000 Zuschauer täglich, gewinnt die Abendschau durch gleich bleibende Seriosität. Bei der Themenwahl beschränkt man sich auf so genannte hard und soft news, auf wichtige Ereignisse und ein wenig schmückendes Beiwerk. Für eine Prise human interest sorgt Moll mit seiner Gesprächsreihe Zu Fuß in Berlin persönlich, wo er, innerhalb der Abendschau, Prominente ein paar Minuten lang beim Spaziergang interviewt. Bei Boulevardthemen hingegen Fehlanzeige - dafür wäre Friedrich Moll der falsche Mann. Zwar haben Beliebtheitsmessungen an Testzuschauern ergeben, dass diese nur zu höchstens zwanzig Prozent auf die Inhalte achten und zu siebzig Prozent auf die Optik. "Das Wichtigste scheint den Leuten zu sein", überspitzt Moll, "dass der Schlips nicht schief sitzt." Dennoch verbindet sich gerade mit ihm eine ebenso zuverlässige wie geduldige Präsentation des Tagesgeschehens, was ja im Laufe des Jahres nur allzu oft auf die Wiederkehr des Immergleichen hinausläuft.
Seit 1980 ist Friedrich Moll, der vorher als Wirtschaftsjournalist bei der Berliner Morgenpost und beim Tagesspiegel gearbeitet hatte, fest angestellter Redakteur beim einstigen SFB, in jenen Jahren gerne als "Sender für Besetzer" verunglimpft. Seit 1990 moderiert der heute 56-Jährige das abendliche Stadt-Magazin. Dass er, mitunter von der Berliner Presse und von lokalen Konkurrenzsendern hämisch kommentiert, auf eine so lange Fernsehpräsenz zurückblicken kann, hängt mit seiner Person zusammen. Auch wenn er es nicht so gerne hört: Friedrich Moll lässt immer ein wenig Persönlichkeit und Individualität in der auf Objektivität getrimmten Nachrichtenwelt erkennen. Man könnte das den "Wickert-Effekt" nennen. Mal rutscht eine Augenbraue etwas zu hoch, mal huscht ein Lächeln über seinen Mund, um sofort wieder zu verschwinden, mal legt er sich mit einem Interview-Gast an, mal geht er - wie im Sommer bei einer Open-Air-Sendung im Lustgarten geschehen - einem Querulanten, der ihn körperlich angreift, keinen Zentimeter aus dem Weg. Aus solchen Kleinigkeiten formt der Zuschauer sich ein Bild: Er glaubt zu wissen, woran er bei Friedrich Moll ist.
Als vor vielen Jahren die Abendschau einmal über einen Sitzstreik von Wehrdienstverweigerern auf den Gleisen des Bahnhofs Zoo berichtete, die die Abfahrt eines Zuges mit jungen Rekruten verhindern wollten, konnte man die Gesetzeshüter dabei beobachten, wie sie an einer Stelle den Streikenden auf den Gleisen mit ausgestreckten Fingern in die Augen stachen. Abends nahm Friedrich Moll sich den Einsatzleiter der Polizei zur Brust. Durch "sachliches Nachfragen, ob das ein normaler Polizeigriff" gewesen sei, unterstreicht Moll heute, gelangte der Studiogast arg in Bedrängnis. Als die Polizei daraufhin bei damaligen Intendanten Günther von Lojewsky intervenierte, durfte ein Polizeidirektor am nächsten Tag nochmals in die Sendung und die Angelegenheit in einem anderen Licht darstellen. Dessen ungeachtet hatte Friedrich Moll, im Rahmen seiner Möglichkeiten, journalistische Courage bewiesen.
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