Man kann sich nicht ganz der Versuchung entziehen, Marcel Reich-Ranicki in seiner kürzlich geäußerten Schmähung des Fernsehens ("Blödsinn") zuzustimmen. Zwar muss man das Fernsehprogramm nicht gleich komplett verdammen. Andererseits möchte man aber auch nicht in der Jury sitzen, die den Mist eines Jahres sichten muss, um darin einige Perlen zu entdecken. In der Tendenz hat der zornige alte Mann schon Recht: Die deutschen öffentlich-rechtlichen Anstalten biedern sich immer mehr den Privatsendern und ihren Erfolgsrezepten an. Keine neue Erkenntnis freilich.
Früher war das anders: Den Redakteuren in den Landesrundfunkanstalten war der Geschmack der Massen schnurz. Sie produzierten, was sie selbst gut fanden und was ihnen kulturelles Renommee einbrachte. Heute blicken sie am nächsten Tag anstatt ins Feuilleton auf die Quoten. Und die lassen sich eben mit Sturm der Liebe, Degeto-Schmonzetten und Thomas Gottschalk erzielen. Dass dessen "Streitgespräch" mit Reich-Ranicki einem Schachspiel nur mit Bauern glich, kann "aus gegebenem Anlass" nicht weiter erstaunen. Die Niveaufeindlichkeit auf beiden Seiten hatte gewissermaßen systemimmanente Gründe: Der eitle Zirkus muss weitergehen.
Wer dieser Vorführung nicht länger beiwohnen will, muss beim Fernsehen entweder die innere Emigration antreten und ausschalten. Oder auswandern. Die Jüngeren sind seit Längerem ins Internet migriert, wo es auf den Videoportalen unendlich viel zu entdecken gibt. Alles in gebotener Kürze: Die besten Fußballtore vom Wochenende, Ausschnitte von Popstars in Fernsehshows wie Wetten, dass ...? oder eben Reich-Ranicki bei der Fernsehpreis-Verleihung. Wem seine Zeit zu kostbar ist, um bei einer dreistündigen Fernsehpreisgala auf dem Sofa still zu sitzen, der ist mit einem Youtube-Clip nicht schlecht bedient.
Um an gutes Fernsehen zu gelangen, muss man noch verschlungenere Wege antreten. Durch den Sohn eines Schwagers einer entfernt Bekannten werden mir gelegentlich amerikanische Fernsehserien zugespielt. Sie stammen aus dem Internet. Läuft auf ABC eine neue Folge der fünften Staffel von Desperate Housewives, steht sie wenige Zeit später schon im Netz. Praktischerweise gleich ohne Werbeblöcke. Die neue Staffel von Desperate Housewives ist am Mittwoch auch bei uns gestartet. Aber was ist mit The Wire, Deadwood oder Mad Men? Diese preisgekrönten US-Serien werden wir im Fernsehen vermutlich niemals zu Gesicht bekommen. Kursiert vielleicht die Angst, dass sich der Zuschauer an wirkliche Qualität gewöhnen könnte? Und auf den "Blödsinn" künftig verzichtet?
Kürzlich fiel mir die erste Staffel von Mad Men in die Hände. Die prestigeträchtige Serie des kleinen Kabelkanals AMC, der auch eine Kinokette in den USA betreibt, wurde schon mit Golden Globes und Emmys prämiert. Von der amerikanischen Television Critics Association wurde Mad Men mit Preisen für das "herausragende neue Programm des Jahres" bedacht. Die amerikanischen Zeitungen stimmten unisono Lobeshymnen an.
Zu Recht. Die Erzählung um Don Draper (Jon Hamm), den Kreativdirektor einer Werbeagentur auf Manhattans schicker Madison Avenue, spielt in den sechziger Jahren. Eine wahrlich andere Zeit: Hier wird noch gepafft, was die Lungenflügel hergeben. Und zwar nonstop. Im Büro, im Auto und Zug, im Bett, auf dem Klo, allein oder in vergnügter Runde - überall klicken die Zippo-Feuerzeuge, glimmen Kippen auf, strömt blauer Rauch aus roten Mündern. Halb aufgerauchte Zigaretten werden achtlos weggeworfen oder im Aschenbecher ausgedrückt, eine neue sofort angezündet. Als Zuschauer möchte man mithusten.
Im rauchfreien Amerika unserer Tage gleicht Mad Men einem einzigartigen visuellen Affront. Nüchtern konstatiert die Selbstbeschreibung der Serie: "Ethik am Arbeitsplatz, rauchfreie Umgebungen, sexuelle Belästigung und ethnische Vielfalt sind Workshops der Zukunft." In diesem Sinne delektieren sich die einzelnen Folgen an einer fröhlichen politischen Unkorrektheit, ohne die heutigen Gepflogenheiten zu desavouieren. Mad Men erinnert sich der kulturellen Bias der sechziger Jahre, die als ein vergleichsweise unbekümmertes Jahrzehnt erscheinen. Man will dem Konservatismus der fünfziger Jahre unbedingt entkommen und kann ihm doch nicht einfach entfliehen. Sozialer Wandel im Gänseschritt.
Chefautor Matthew Weiner, der schon an den Sopranos beteiligt war, ist mit Mad Men ein großer Wurf gelungen. Von der ersten Minute an überzeugt die Sorgfalt, die er den Figuren, den Dialogen, den Handlungsfäden und der gesamten Tönung der Serie verleiht. Ungewohnt aufwändig ausgestattet, weist Mad Men einen coolen, modernen Look auf, was hiesigen Produktionen vollkommen abgeht.
Liebe deutsche Programmdirektoren, das ist gutes Fernsehen. Hier spielt das Medium seine volle Stärke aus und verbindet die Schauwerte des Kinos mit der Erzählkunst eines langen Romans, der bitte, bitte niemals enden möge.
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