Die Netz-Tagebücher

Medientagebuch Ist es Journalismus? Engagierte Netzbürger schreiben in Weblogs über alles, was sie und die Welt bewegt

Bei den Parteitagsfeierlichkeiten der amerikanischen Demokraten Ende Juli in Boston gerieten Weblogs ins Licht einer breiten Öffentlichkeit. Neben den 15.000 akkreditierten Journalisten durften zum ersten Mal 30 so genannte Blogger teilnehmen - Menschen, die auf ihrer Homepage im Internet ein so genanntes Weblog führen (zum Beispiel: www.burntorangereport.com). Sie konnten die Kür des demokratischen Kandidaten John Kerry live erleben, um anschließend der Welt ihre Beobachtungen in jenem für Weblogs typischen tagebuchartigen Stil mitzuteilen. Schlagzeilen wie "Blogger stehlen John Kerry die Schau" (Heise) oder "Bloggers go Mainstream" (BBC) machten daraufhin die Runde. Die Medienstrategie der Demokraten war aufgegangen, und die Partei hatte sich mit ihrer Öffnung für die sonst eher skeptisch betrachteten Selfmade-Journalisten profiliert - und dafür entsprechend Publicity erhalten.

Tage später wurden erste kritische Stimmen laut: Bei den akkreditierten Bloggern hatte es sich um der Demokratischen Partei recht nahe stehende Personen gehandelt, zum großen Teil sogar um stimmberechtigte Delegierte, die ohnehin zum Kongress gelangt wären. Der Vorwurf der Hofberichterstattung wurde laut: Polit-PR für von vornherein Überzeugte. Erneut war die Kluft zwischen einem traditionellen Journalismus, der für sich Überparteilichkeit und Objektivität in Anspruch nimmt, und den Webloggern, die Subjektivität und Unabhängigkeit fordern, zu Tage getreten.

Weblog, oder kurz: Blog, ist ein Kunstwort aus Web und Logbuch. Ursprünglich waren damit Surftouren durch das Internet gemeint, gespickt mit Links und persönlichen Anmerkungen. Der Erfinder des World-Wide-Web, Tim Berners-Lee, und Netscape-Gründer Marc Andreessen gelten mit ihren 1993 publizierten kommentierten Linklisten als frühe Blogger. Seit Mitte der neunziger Jahre konnte sich Harry Knowles mit seinem Ain´t-it-cool-Blog eine Reputation als Filmkritiker erarbeiten. Erst auf Insider-Informationen angewiesen, luden ihn die Hollywood-Studios später aufgrund des großen Zugriffs auf seine Website direkt zu exklusiven Voraufführungen neuer Filme ein. Ab 1997 professionalisierte sich die Blogger-Szene und gab dem Nutzer eigens Software wie "Manila" an die Hand, um die täglichen Aktualisierungen zu erleichtern. Bei Blogger.com lassen sich Weblogs in "three easy steps" erstellen.

Neben dieser klassischer Form von Weblogs gibt es Netztagebücher, in denen persönliche Erlebnisse oder intime Gedanken der Öffentlichkeit preisgegeben werden. Sein äußerst freizügiges Internet-Tagebuch ließ Hotwired-Autor Justin Hall 1996 zur Kultfigur werden. Als prominentes deutsches Beispiel führte Rainald Goetz von Februar 1998 an für ein Jahr ein Weblog, das später als 900-Seiten-Buch Abfall für alle erschien. Anfang Juli dieses Jahres flog die wahre Identität von Layne Johnson auf, die drei Jahre lang ein äußerst populäres Logbuch im Internet veröffentlicht hatte. Als dieses urplötzlich eingestellt wurde, machten einige Leser sich auf die Suche nach der Verschollenen - und entdeckten schließlich den Vater zweier Kinder, dem der Aufwand für das Blog über den Kopf gewachsen war.

In den USA sind Weblogs ungleich verbreiteter und beliebter als bei uns. Im Nachklang der Ereignisse um den 11. September 2001 erschienen im Internet eine Reihe von Blog-Seiten mit politischer Ausrichtung. New Yorker begaben sich mit Fotokameras und offenen Augen auf die Straßen und berichteten schneller, direkter und subjektiver über die Auswirkungen der Terrorattacken auf das World Trade Center als so manches Nachrichtenportal. Im Zuge des letztjährigen Irakkriegs entstanden dann so genannte Warblogs, in denen Kriegsberichterstatter, die nicht zu den "eingebettenen" Journalisten des offiziellen Nachrichtentrosses gehörten, Bilder und Schilderungen der Opfer unter der Zivilbevölkerung lieferten. Der freie Journalist Christopher Allbritton ließ sich gar von den Lesern seines Back-to-Iraq-Blogs finanzieren. Das patriotische Verhalten und die selbst auferlegte Zensur der führenden Medien konnte so umgangen werden.

Kürzlich berichtete der Urbanist Mike Davis über eine Kinovorführung des Michael-Moore-Films Fahrenheit 9/11 im kalifornischen San Diego. Den Schock, der vielen der republikanischen Zuschauern in den Augen stand, erklärte er sich damit, dass sie Bilder von Kriegsopfern einfach nie zu sehen bekommen hatten. Michael Moore hatte sich beim arabischen Fernsehsender al Jazira bedient und auch zahlreiche Warblogs und unabhängige Informationsquellen (etwa: www.indymedia.org) bei der Recherche für seinen Film zu Rate gezogen.

Hier zu Lande wird die journalistische Qualität von Blogs eher kritisch beäugt. Ein Tagesthema seriös widerzuspiegeln und einzuordnen, wird den meisten Weblogs nicht attestiert. Freilich wollen die das auch gar nicht. Im Gegenteil sind Blogs eine Plattform für die freie Rede. Dadurch, dass Einblick in die unverfälschte "Denke" des Kommentators gewährt wird, kann sich der Leser selbst ein Bild machen. Diese aus dem "Graswurzel-Journalismus" stammende Haltung formuliert heftige Einwände gegen den Qualitätsbegriff des vorherrschenden Journalismus. Dan Gillmor, Autor des kürzlich erschienenen Buchs We the media, findet, dass die gebräuchlichen journalistischen Standards von Unabhängigkeit und Objektivität nur die dahinter liegende politische Tendenz des jeweiligen Mediums verschleiern.

Der aktuelle Bild-Blog (www.bildblog.de), wo Dichtung und Wahrheit des Boulevardblatts nach dem Motto "Die kleinen Merkwürdigkeiten und das große Schlimme" unter die Lupe genommen werden, wäre dafür ein Beispiel. Unterdessen verleiben sich aber offizielle Medien Weblogs einfach ein: Tagesschau.de hat einen Weblog zu den US-Präsidentschaftswahlen für September angekündigt, in dem ein Hörfunkkorrespondent aus Washington seine persönliche Sicht der Dinge schildern darf. Dies allerdings widerspricht beidem: sowohl den journalistischen Standards als auch der Philosophie von Weblogs.


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