Statistisches Zahlenwerk hinkt allzu oft dem gesunden Volksempfinden hinterher. Viele Erkenntnisse haben sich längst als geläufige Einsichten etabliert, bevor eine wissenschaftliche Studie sie fachlich belegt. So war denn auch, außer Berlins Wirtschaftssenator Harald Wolf (Die Linke), niemand ernsthaft überrascht, als vergangene Woche die neuesten Branchenzahlen der "Kreativwirtschaft" vorgestellt wurden. Oh Wunder: die Zahl der Freiberufler, Selbstständigen und geringfügig Beschäftigten mit Mini-Jobs nimmt in der Hauptstadt rasant zu. Trotz steigender Umsätze und Gewinne seitens der Medienunternehmen zeitigt die boomende Wirtschaft keinerlei positive Auswirkungen auf die Zahl der festen Stellen.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hatte im Auftrag des Berliner Wirtschaftssenats, wie jedes Jahr, auf Basis von Unternehmensbefragungen aktuelle Zahlen in der Medienindustrie erhoben. Erstmalig sind für die Elevation auch Daten der Bundesagentur für Arbeit sowie die Umsatzsteuerstatistik herangezogen worden. Demnach arbeiten in Berlin 188.569 Menschen in Kreativberufen, davon lediglich 101.750 festangestellt. Der Rest verdingt sich als Freiberufler oder Mini-Jobber (Anstieg von 2000 bis 2005 um 61 Prozent). Wobei es beispielsweise beim Film schon immer üblich war, nach einigen Monaten Beschäftigung als Kameramann eine mehrwöchige Zwangspause mithilfe von Arbeitslosengeld - sozialversichert! - zu überbrücken. Man hatte es schon immer geahnt: Wer Geld verdienen will, zieht nach Hamburg, Düsseldorf oder München. Nun ist es amtlich.
Dessen ungeachtet feiert Berlin sich als Sieger. Schenkt man einer unlängst im Spiegel erschienenen Titelgeschichte Glauben, gewinnt die in manchen Teilen des Landes nur leidlich geliebte Hauptstadt wieder an Format. Vergessen die Zeiten der kostspieligen Alimentierung. Vorbei die Phase der erkauften Geltung. Heute wird in Berlin mit anderer Währung gezahlt, mit kulturellem Kapital. "Arm, aber sexy", so hat Berlins Regierender Bürgermeister, Klaus Wowereit, die Stadt beschrieben. An diesem Klischee ist viel Wahres. Nach wie vor übt die Spreemetropole eine verführerische Strahlkraft auf viele Kreative aus, die in Scharen herziehen und die "Capital of Talents" bevölkern. Die Bedingungen sind günstig wie nirgendwo: erschwingliche Mieten, geringe Lebenshaltungskosten und ein kreativer Humus, der neuartige Ideen und innovative Projekte prächtig gedeihen lässt.
Gerade die Medienlandschaft Berlins und Brandenburgs hat von diesem sorgsam gehegten Berlin-Hype profitiert. Im Wettbewerb der Standorte belegt die Region zwar keinen Spitzenplatz - München und Nordrhein-Westfalen weisen höhere Umsätze und Beschäftigtenzahlen auf. Doch an Selbstbewusstsein hat es in der preußischen Metropole nie gemangelt. In einer aktuellen Broschüre mit dem Titel Medien. IT. Kommunikation - Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg, herausgegeben vom Medienboard Berlin Brandenburg, heißt es ehrgeizig: "Die Hauptstadtregion gilt national wie international als Zentrum der kulturellen Avantgarde, die Metropole ist der aufregendste Platz für Medienschaffende und Standort für die so genannten Creative Industries. Nirgendwo in Deutschland ist man näher am aktuellen Geschehen."
Und nirgendwo verdient es sich schlechter. Das Lohngefüge an der Spree, wo es keine großen, alteingesessenen Traditionsunternehmen gibt, stattdessen unzählige Agenturen und Kleinstunternehmen, gilt als unterdurchschnittlich. In der Film- und Fernsehwirtschaft ist es beispielsweise üblich, Personal projektbezogen zu akquirieren. Untertitelungsfirmen blasen ihren Mitarbeiterstamm um das Fünffache auf, wenn ein Auftrag schnell zu erledigen ist. Laut Connex.av, eine Interessenvertretung für Medienschaffenden innerhalb von Ver.di, soll es Kameraleute geben, die an einer der drei Filmhochschulen in Berlin, Babelsberg oder Elstal ausgebildet wurden und sich auf dem Markt für 50 Euro am Tag verdingen. "Diese Tendenz hat in den letzten zwei Jahren in der Rundfunkbranche, beim Fernsehen und in journalistischen Berufen zugenommen", sagt Katja Karger von Connex.av Berlin.
Die Kehrseite der Kreativität: prekäre Arbeitsverhältnisse? Sicher nagen nicht alle Freischaffenden am Hungertuch. Doch genauso sicher ist es, dass die Bereitschaft zur Selbstausbeutung und der Trend zum Lohndumping - Stichwort: Praktikum - an der Spree besonders stark ausgeprägt sind. Berlin wird gern als "Trendhauptstadt" oder "Experimentallabor der Republik" bezeichnet. Jeder kann hier ausprobieren, wie zukunftsträchtig und tragfähig seine Ideen sind. Bloß hat er keinen Anspruch auf Erfolg. Seit 1991 sind eine Million Menschen zwischen 18 und 35 Jahren nach Berlin gezogen. Im Gegenzug verließen 1,7 Millionen Einwohner die Stadt. Dieser enorme Austausch hat die Spreemetropole mit viel Inspiration und frischen Ideen versorgt.
Aus dem Blickwinkel des Standort-Marketings ist die fallende Lohnentwicklung, deren Verifizierung vom DIW eher nicht zu erwarten ist, weniger relevant. Wirtschaftssenator Wolf strengt zwar angesichts der aktuellen Zahlen eine "vertiefende Untersuchung hinsichtlich der Konsequenzen für die Wirtschaftspolitik" an. Doch solange auf brummende Umsatzzuwächse und rasante Ansiedlung verwiesen werden kann, dürfte sich - falls überhaupt möglich - wenig ändern.
Die Zahlen spiegeln eitel Sonnenschein: Nach dem Glücksfall des Regierungsumzugs, in dessen Rahmen Fernsehsender, überregionale Tageszeitungen und politische Magazine ihre Hauptstadtbüros und Parlamentsredaktionen in Reichstagsnähe bezogen haben, gelang es Berlin, durch großzügige Subventionspolitik auch die Werbe- und Musikindustrie an die Spree zu holen. Universal Deutschland, MTV und VIVA, aber auch Medienkonzerne wie Studio Hamburg, das am Standort Adlershof 100 Millionen Euro investiert hat, haben längst die Zeichen der Zeit erkannt und sind dem Ruf an die Spree gefolgt.
In Berlin und Brandenburg entstehen die großen Fernseherfolge: Endlosserien wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten und Telenovelas wie Wege zum Glück (ZDF) und Verliebt in Berlin (Sat1). Für diese drei Serien hat die ausführende Produktionsfirma Grundy UFA allein 450 Mitarbeiter beschäftigt. Wie viele davon in Festanstellung, ist nicht zu erfahren. Meist sind das nur die Verwaltungsangestellten, während der künstlerische Stamm auf Honorarbasis arbeitet. Grundy UFA ist Marktführer in der "industriellen Serienproduktion" und gehört, wie ein Dutzend weiterer Firmen, zur UFA Holding, "eine der ältesten und profiliertesten deutschen Unterhaltungsmarken" (Selbstbeschreibung), deren geschätzter Jahresumsatz bei 320 Millionen Euro liegt.
Zu den weiteren Ansiedlungen der jüngeren Zeit zählt die MME Moviement Gruppe, ein am ursprünglichen Firmensitz Hamburg beinahe Konkurs gegangenes Unternehmen, das 2005 nach Berlin umzog und vergangenes Jahr mit Serien wie Einsatz in vier Wänden oder Richterin Barbara Salesch einen Umsatz von 93,4 Millionen Euro erwirtschaftet hat. MME ist aktuell von der Londoner Produktionsfirma All3Media übernommen worden, zu deren Gesellschaftern der Finanzinvestor Permira zählt, der auch ProSiebenSat.1 aufgekauft hat.
Großzügige Landesbürgschaften für das Studio Babelsberg in Brandenburg oder bankengestützte Finanzierungskonzepte für internationale Filmproduktionen, wie sie Studio Hamburg auf den Weg gebracht hat, verdeutlichen, wohin die Reise geht: Das Großkapital hat die deutsche Hauptstadt bemerkt. Rührend erscheint da, dass die Berliner Standortpolitik die "großen Player" als nur eine Seite der Medaille darstellt und sich darüber beklagt, dass in den Medien nur über "die großen Fische" berichtet wird. Achtzig Prozent des Engagements komme kleinen und mittleren Unternehmen zugute. Laut Angaben des Medienboard Berlin Brandenburg haben sich allein 2006 sechzig solcher Unternehmen in Berlin angesiedelt und zusammen 2.700 Arbeitsplätze geschaffen.
Es passt alles perfekt ins Bild: Während börsennotierte Medienunternehmen Traumrenditen einholen und großzügig unter den Aktionären streuen, während immer mehr Medienunternehmen sich in Berlin ansiedeln, um vom "kulturellen Kapital" der Hauptstadt zu profitieren, das ihnen in Form von engagierten und gut ausgebildeten Kreativen zur Verfügung steht, versuchen letztere ihre Freiheiten sinnvoll einzusetzen - und sei es, indem sie eine "digitale Bohème" ausrufen und ihre Arbeitskraft in Anführungszeichen setzen: "Wir nennen es Arbeit". Andere finden sie schlecht bezahlt.
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