Erinnerung im Schnelldurchlauf

Medientagebuch Zurüstungen für die Zukunft: Wie man Quoten bei zeitversetztem Fernsehen oder im Internet misst

Einschaltquoten werden ja für allerlei verantwortlich gemacht. Etwa für den Niedergang der Qualität im Fernsehen. Seitdem die Zuschauer gezählt werden und ihr Sehverhalten das Programm bestimmt, sinkt der gefühlte Anspruch. Die Leute wollen es nicht anders, heißt es. Gegen die Massen lassen sich nur schwer Qualitätsargumente in Stellung bringen. Und so schauen die Programmdirektoren nicht mehr frühmorgens ins Feuilleton, um den Erfolg ihrer Sendungen zu bemessen, sondern auf die Fernsehquote.

5.640 Haushalte sind an das Mautsystem der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung (AGF) angeschlossen. Jede Programmabfahrt, die die 13.000 repräsentativ ausgewählten Teilnehmer auf der Fernsehautobahn nehmen, wird registriert. Sekundengenau kann dargelegt werden, wer wie lange welcher Sendung auf der Spur blieb. Daraus ermittelt die AGF Quote und Marktanteil der Sender - relevant für die Werbepreise.

Bei der letzten Fußball-Europameisterschaft hat man allerdings festgestellt, dass weitaus mehr Leute fernsehen, als rechnerisch registriert werden. Wenn sich Hunderte im Biergarten vor einer Projektionswand treffen, zählt statistisch nur einer. Lädt man sich Freunde zum Seriengucken ins Haus, ist es nicht anders. Vor allem bei den öffentlich-rechtlichen Sender wird darüber laut gemurrt. Ab nächstem Jahr sollen mehr Gastzugänge vom Messsystem erfasst werden.

Darüberhinaus will man künftig auch neue Nutzungsarten wie "zeitsouveränes" Sehen, Abrufvideos und Fernsehempfang über den Computer berücksichtigen. Alle Testhaushalte bekommen neue Messgeräte spendiert, die eine entsprechende Software aufweisen. Bislang können bloß analoges und digitales Kabel- und Satellitenfernsehen sowie der terrestrische Empfang über DVB-T erfasst werden und die Aufzeichnung mit dem antiquierten Videorekorder. Ab Juli 2009 kann zeitversetztes Sehen per DVD- oder Festplattenrekorder gemessen werden. Später sollen Video-on-Demand und Internetfernsehen folgen.

Auf 2,2 Prozent der werberelevanten 14- bis 49-Jährigen schätzt man derzeit den Zuschaueranteil beim zeitversetzten Sehen. Das kann sich schnell ändern: Vor allem Spielfilme und Spezialsendungen werden weit nach Mitternacht ausgestrahlt, wenn nur noch der Rekorder arbeitet. Künftig sollen alle Sichtungen, die innerhalb von drei Tagen geschehen, noch in die Fernsehquote einfließen. Nicht nur auf die Quote hat diese Drei-Tage-Regelung Auswirkungen. Einzelne Programme sind nicht mehr bloß in ein Echtzeitumfeld eingebettet. Möglicherweise konkurrieren sie gar nicht direkt mit einem Mitbewerber, sondern mit einer aufgezeichneten Sendung vom Vortag. In diesem Szenario wetteifert ein Fernsehsender theoretisch zu jeder Zeit mit dem dreitägigen Vollprogramm aller anderen Sender. Das ergibt eine schöne exponentielle Kurvenexplosion.

Würden Programmgestalter nicht insgeheim davon ausgehen, dass die meisten Leute weiterhin linear schauen, hätten sie ein echtes Problem. Muss sich Wer wird Millionär? am Montag weiterhin gegen CSI: New York durchsetzen oder mit dem Gottschalk vom Samstagabend auf dem Festplattenrekorder? Und was sagt das über den Zuschauer, das fremde Wesen, aus? Hinzu kommen die so genannten Catch-ups, die Zugriffe auf die Videoarchive der Sender im Internet. Pro7 verzeichnete angeblich 500.000 Klicks auf jede im Internet abgelegte Folge von Germany´s Next Topmodel. Weil in den Catch-ups jedoch unterschiedliche Werbung läuft, zählen sie nicht zur Fernsehnutzung. Das neue Messsystem TVScore könnte sie obendrein technisch auch nicht erfassen.

Kopfzerbrechen bereiten den Quotenzählern die Werbeblöcke. Sie werden von Nutzern mit Festplattenrekordern im Schnelldurchlauf übersprungen. Wer hält sich schon gern mit Werbung auf? Aus nachvollziehbaren Gründen hat die werbetreibende Industrie damit allerdings ein Problem: Sie müsste zwar die vollen Werbepreise zahlen, während ihre Spots von den "zeitsouveränen" Zuschauern ignoriert würden.

Hier kommt Entwarnung aus den USA. In einer Studie hat Horst Stipp, Vizepräsident der Fernsehforschung beim Sender NBC, festgestellt, dass zwar sechzig Prozent der Werbeblöcke von aufgezeichneten Sendungen im Schnelldurchlauf gesehen wird. Trotzdem konnten seine Probanden sich am nächsten Tag an viele der beworbenen Produkte noch erinnern. "Die Erinnerung bei dreifacher Geschwindigkeit", beschreibt Stipp seine Forschungsergebnisse, "liegt bei etwa zwei Dritteln im Vergleich zu den Werten bei Live-Rezeption, bei sechsfacher Geschwindigkeit liegt sie bei einem Drittel."

Da drängt sich die Überlegung auf, ob wir nicht auch schneller fernsehen könnten. Es geht bestimmt etwas schneller. Mir fällt oft auf, dass ich mich häufig nicht mehr ans Fernsehprogramm vom Vorabend erinnern kann. Würde es drei Mal so schnell laufen, denke ich nun, wäre die Erinnerung zu zwei Dritteln gesichert. Immerhin.

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